Kurzkritik:Dada und Daten

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Privatsphären-Quiz auf der Bühne: die Performerin Philine Velhagen im Theater Hoch X. (Foto: Lenny Rothenberg)

Philine Velhagens Gastspiel "I Am Your Private Dancer"

Von SABINE LEUCHT, München

Irgendwie ist Papa böse. Oder Mama. Oder beide. Oder das Kind ist einfach müde und die Welt deshalb komplett verkehrt. Und also sagt es niemandem "Gute Nacht". Quengelt lieber. Oder nein, nicht lieber. Aber quengelt. Lange! Und allen tut das weh. Das Kind gehört zu Philine Velhagen, die sich im Frühjahr 2017 eine Woche lang non stop selbst abgehört hat. Sich, ihre Familie, ihre Freunde und die Kollaborateure des Performance-Netzwerks Drama Köln, das sie leitet. Dort - im Drama Köln Büro - wird Kaffee oder Tee serviert, Dunja mit Anja verwechselt und Organisatorisches geklärt.

Beim Gastspiel der früheren Münchnerin im Hoch X kann man all diese Lebensalltagsschnipsel durch Kopfhörer nachhören, sich dabei zwischen Dunstabzugshaube und Spielzeug auf Velhagens bequemes Bett legen, auf dessen Matratzenbezug irgendwer einen bunten Drachen gezeichnet hat, am Familienesstisch Platz nehmen oder auf dem Sofa, wo die Performerin und Regisseurin selbst in hässlichen Zuhause-Leggins herumlümmelt und alle einlädt, sich umzutun in ihrem Leben: Viel Alltag mit Kids, viel In-der-Küche-Hantieren, die Klospülung, das Rauschen des Aufnahmegerätes in der Nacht. Solche Sachen.

"I Am Your Private Dancer" (Untertitel: "Eine Datensicherung unter Zeugenschaft") teilt ursprünglich für ein Hörspiel gesammeltes Material mit einem kleinen Zuschauerkreis und liefert auch etwas Problembewusstsein mit. So stellt Velhagen ein Telefongespräch mit einer Freundin nach, die ihr offenbar intime Details anvertraut hat und sich nun verraten fühlt. Oder lässt eine Besucherin exklusiv in den "Giftschrank" blicken, in dem sie solche sensibleren Daten unter Verschluss hält, und entscheiden, ob sie gelöscht werden sollen oder nicht. Legal? Illegal? Scheißegal?

Irgendwo dazwischen bewegt sich der Abend, oft stolpernd und seltsam unentschlossen, aber immer entspannt-charmant. Mit einem witzigen Privatsphären-Quiz in Roulette-Form, bei dem die Zuschauer Geld gewinnen können, weil das Google und Facebook mit den Informationen über uns ja auch tun. Man spielt Wort-Suchmaschine, kann die ungenügende Leistung eines automatischen Transkriptionsprogrammes begutachten, dessen Dada-Ergüsse lange Papierbahnen schmücken ("1:13:16 My name ist deutsch. Musikbrauerei, machst du auch oben drüber hey. Geburtstag") und kommt einander näher. Tiefere Erkenntnisse politisch-gesellschaftlicher Art aber bringt einem dieser Nahkampf mit mehrheitlich eher fadem Datenmüll nicht.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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