Kurt Kister: Deutscher Alltag:Nicht tot, nur müde

Nirgendwo kommen so viele neue Bücher auf den Markt wie in Deutschland. Irgendwer muss die schreiben - wahrscheinlich ist es der Kollege, der so glanzlos schaut.

Kurt Kister

Am Samstag soll der Mensch in die Buchhandlung gehen. Unter der Woche hat er dafür keine Zeit, er muss arbeiten. Arbeit ist anstrengend, auch weil der Mensch sich immer wieder einreden muss, dass die vielen toten Augen, die ihn im Büro anglotzen, nicht tot, sondern nur etwas glanzlos sind. Nein, es reicht nicht aus, im Büro nur in der Internet-Buchhandlung zu stöbern. Das ist zwar besser als das Gespräch mit dem Controller. Aber Bücher muss man anfassen, anschauen und sogar beriechen, bevor man sie kauft. Amazon kann man nicht riechen.

Kurt Kister: Deutscher Alltag: In Redaktionskonferenzen erntet man oft glanzlose Blicke. Meistens trifft man diese Kollegen in der Buchhandlung wieder - sie lesen aus ihrem eigenen Buch.

In Redaktionskonferenzen erntet man oft glanzlose Blicke. Meistens trifft man diese Kollegen in der Buchhandlung wieder - sie lesen aus ihrem eigenen Buch.

(Foto: Foto: Volker Derlath)

Allerdings ist auch die Buchhandlung nicht ungefährlich. Jahr um Jahr liegen da immer mehr Bücher, deren Autoren man kennt. Damit sind nicht solche Autoren gemeint, die man aus dem Fernsehen oder gar vom Lesen "kennt". Die kennt man ja nicht, von denen hat man nur gehört, oder man hat sie in einer Talkshow gesehen.

Wenn man aber selbst sein Geld in den Medien verdient, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man umgeben ist von Kollegen, die kaum eine Hauptexistenz haben, aber doch eine Nebenexistenz führen, und zwar als Schriftsteller. Der Journalist will nicht mehr leben, ohne dass er ein Buch schreibt. Ein Buch pro Jahr. Dafür nimmt der Journalist vier Wochen frei, und wenn es kein Schnellschuss werden soll, dann schreibt er acht Wochen lang. Thomas Mann arbeitete an "Joseph und seine Brüder" 17 Jahre.

Was dieser Schriftsteller, also der Journalist dann schreibt, ist wurscht. Wie er schreibt, sowieso. Der eine verfasst einen sonderbaren Krimi, der nächste ein Enthüllungsbuch über die Parteien und die dritte einen Gesundheitsratgeber. Am schlimmsten sind die Leute mit den Romanen, weil man sich bei den allermeisten schon schwer genug tut, eine 140-Zeilen-Reportage zu lesen. Nirgendwo sonst in der Welt kommen jedes Jahr so viele neue Bücher auf den Markt wie in Deutschland. Irgendwer muss die schreiben, und wahrscheinlich sind das all jene Leute, die einen dann in der Redaktionskonferenz so glanzlos anschauen.

Sie sind inwendig nicht tot, sondern nur müde. Sie haben gerade die neue Merkel-Biographie in Arbeit oder den ultimativen Junge-Eltern-Ratgeber oder stellen wenigstens gerade ein Asien-Handbuch zusammen. Zum Dienst darf man sie im nächsten Monat nicht einteilen, denn da sind sie auf Lesereise.

Was für eine Vorstellung: Man kommt samstags in die Buchhandlung, will blättern und riechen. Plötzlich sieht man da den Kerl von der Wochenendbeilage, dem man schon montags bis freitags nicht immer ausweichen kann. Er sitzt auf einem Stuhl, ist bei sich und liest aus seinem neuen Buch vor.

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