Kunstspektakel: Documenta in Kassel:Westlich von Sibirien

Die Documenta-Stadt: Mal Metropole des Mittelmaßes, mal Hort der Hochkultur - wie Kassel davon lebt, dass zwischen zwei Welten viel Raum zur Interpretation bleibt.

Holger Gertz

Kassel, im Juni - Robert Köster ist gebürtiger Oberfranke, in Ostwestfalen aufgewachsen, zum Zivildienst nach Kassel gekommen, da war er 18. Eigentlich wollte er Kunst studieren, aber dann rutschte er in die Werbebranche, baute die Agentur Roberts auf, inzwischen beschäftigt sie 20 Leute. Köster, 41, ist ein bekannter Mann in Kassel, aber er wird immer Kasseler bleiben, nur Kasseler. Er kann sich nicht zum Kasselaner oder Kasseläner weiterentwickeln.

documenta

1001 Chinesen in Kassel, ein wahres Märchen für die tourismusarme Stadt. "Fairytales" - das Documenta-12-Projekt des chinesischen Künstlers Ai Weiwei.

(Foto: Foto: ddp)

Wer, wie er, als Zugezogener in Kassel lebt, ist Kasseler. Wer in Kassel geboren ist, ist Kasselaner. Wessen Eltern auch in Kassel geboren sind, und zwar beide, ist Kasseläner. Ausnahmen gibt es nicht. In Kassel, sagt Robert Köster, sind sie eisern, wenn es darum geht, Vorsätze einzuhalten. Er vermutet, dass das auch an der Geschichte liegt, "eine gewisse Dickköpfigkeit hat sich hier erhalten, aber mir gefällt das. Die sind nicht so diplomatisch, nicht so weich."

Köster, weißes Hemd, elegante schwarze Hose, sitzt im Besprechungsraum seiner Agentur an einem riesigen runden Tisch. Er fragt: "Kennen Sie die Katten?", und hält dann einen kleinen Vortrag über die Katten, einen germanischen Volksstamm, der ungefähr da hauste, wo jetzt Kassel ist. Es ist ein sehr lebendiger Vortrag, Köster ist ein Werbemensch.

"Die Römer hatten echt Muffe vor den Katten, weil die Katten den Römern noch den Schädel eingeschlagen haben, als drumherum schon alles römisch gewesen ist. Die haben nie aufgehört, aufständisch zu sein." Die Katten galten als unheimlich starrsinnig, "und wenn sie sich dazu durchgerungen haben, etwas zu tun, dann richtig brachial. Außerdem haben sie sich bis zuletzt der Völkerwanderung widersetzt", sagt Köster und gluckst dabei ein bisschen. Ihm gefallen die Katten. Sie waren nicht so diplomatisch, nicht so weich.

Tacticus und die Selbstironie

Tacitus, römischer Historiker und Senator, hat geschrieben, die erwachsenen Katten ließen sich Brust- und Barthaar wachsen, um es dann einer Gottheit zu opfern. Man kann aus allem, was er über die Katten sagt, ein kopfschüttelndes Staunen herauslesen. Tacitus hat den Katten nicht in die Seele schauen können, die mächtigen Bärte waren im Weg.

Köster ist da schon weiter. Wer Werbung macht, muss auch ein Psychologe sein. Er hat mit den anderen in seiner Agentur einen Slogan erfunden: "Freiwillig in Kassel". Man sieht in der Stadt gelegentlich Leute, die ihn auf Mützen tragen, er klebt auch auf dem Kofferraum einiger Autos. Der Spruch wirbt für freiwillige, ehrenamtliche Arbeit. Aber natürlich kann man ihn anders lesen, als Spiel mit dem Image dieser Stadt. Es gibt sogar eine Webseite: freiwillig-in-kassel.de.

Der Slogan war riskant, die 200 000 Kasseler, Kasselaner und Kasseläner hätten sich mal wieder veralbert vorkommen können, aber sie sind zur Selbstironie fähig, sagt Köster, vermutlich haben sie auch das mit den Katten gemein, aber das weiß er nicht genau, weil Tacitus die Selbstironie nicht erwähnt. Sie war kein taktisches Element der Kriegsführung.

Vielleicht hat sie sich aber auch erst in den letzten Jahrzehnten so richtig entwickelt.

Lebenslänglich Kassel

Mit Selbstironie kann man reagieren auf das Image, das einem eingebrannt wird. Das Image Kassels ist nicht besonders. Viele kleinere Städte haben ein Imageproblem, es manifestiert sich in Sprüchen und kleinen Gedichten: "Und Gott schuf in seinem Zorn erst Münster und dann Paderborn." Münster ist vor kurzem zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt worden, von wem auch immer. Es gibt so viele Umfragen, da liegt jeder irgendwann vorn.

Aber Kassel? Kassels Image ist so wie das von Berti Vogts oder von Hans Eichel, der in Kassel geboren ist. Kassel ist, wie Vogts und Eichel, langweilig und nicht besonders schön. Man braucht Glück, so ein Image loszuwerden. Man braucht jemanden wie Herbert Grönemeyer, der seine Heimatstadt besungen hat: "Bochum, ich komm' aus dir."

Über Kassel hat Max Goldt eine Satire geschrieben, in der der mobile Brezelverkäufer vorkommt, welcher am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in den ICE steigt, immer steigt er in Kassel-Wilhelmshöhe zu, viele Reisende kennen Kassel nur in Verbindung mit dem mobilen Brezelverkäufer. Max Goldt schreibt, die immobilen Brezelverkäufer seien offenbar dazu verurteilt, zeitlebens in Kassel zu bleiben. So geht es immer weiter.

Seite 2: Wie aus einer Domina eine Dompteurin wird und das Traumpaar Kassel und Dokumenta.

Von Autoren wird Kassel verhöhnt. Und mit den Staatsfinanzen wurde es erst besser, als Hans Eichel nicht mehr Finanzminister war. Bleiben die Bildenden Künstler, die alle fünf Jahre zur Documenta hierher kommen. Sie mussten sich erst finden, die Künstler und die Stadt. Während der Documenta 7 hat der amerikanische Kunsttheoretiker Benjamin Buchloh noch gesagt, Kassel sei "one of the ugliest cities west of Siberia". Aber das war 1982, am Wochenende startet die Documenta 12, die ersten Künstler sind schon da, und es gibt Momente, in denen man spüren kann, wie wichtig die Documenta für die Kasseler, Kasselaner und Kasseläner inzwischen ist. Weil die Kunst der Documenta auch darin besteht, einer Stadt ein Gefühl zu geben, ein Gefühl für ihre Einzigartigkeit.

Plaudertaschen und Rollkoffer

Ai Weiwei ist ein Chinese mit Bierbauch und flusigem Bart, er ist einer der bekanntesten zeitgenössischen Künstler Chinas, und am Dienstag hat er in Kassel, auf einem Fabrikgelände in der Nordstadt, 190 weitere Chinesen empfangen, die Teile eines Kunstwerks sind. Ai Weiwei will 1001 Chinesen nach Kassel bringen, er sagt, "Kunst und das alltägliche Leben müssen einander begegnen", deshalb sind jetzt diese Chinesen da.

Ai Weiwei will bei der Documenta untersuchen, wie sich der soziale Raum durch den Aufenthalt der Chinesen verändert, aber zunächst verändert sich nur der Raum vor der Fabrikhalle, in der sie untergebracht sind. Es wird sehr eng, die Luft ist angefüllt von den gurgelnden und schmatzenden Geräuschen, die die Chinesen von sich geben. Diese Chinesen sind ein Ausschnitt Chinas und das ganze China zugleich. Sie fahren überall hin und schauen sich alles an und machen es dann zu Hause nach und verkaufen es billiger. Die Chinesen symbolisieren eine immer kleiner werdende Welt: ihre Bedrohungen und ihre Versprechen.

Wenn Kunst eine Folie für Interpretationen liefert, dann sind die Chinesen tatsächlich Kunst.

Ai Weiwei und die 190 Chinesen machen sich auf den Weg, 190 Rollkoffer surren leise. Die Kasseler stehen in der Nähe und schauen den Chinesen zu, einige blicken ratlos und behalten das Ergebnis ihrer Interpretation dieser Kunst für sich. Der Nordhesse ist grundsätzlich keine Plaudertasche. Andere sehen so stolz aus wie die Bewohner einer Stadt, in der die Olympischen Spiele ausgetragen werden. Wenn die ersten Athleten kommen, oder die ersten Künstler, geht es bald los.

Kassel - das Gegenteil von langweilig

Die Olympischen Spiele waren aber nie in Kassel, und auch bei der Fußball-WM hat kein Team hier gespielt. Es hat noch nicht mal ein Team hier trainiert. Kassel ist oft im Abseits, wenn was los ist. Kassel war Zonenrandgebiet, als es die DDR noch gab. Kassel ist es irgendwie geblieben. Nur nicht bei der Documenta.

1955 fand die erste Documenta statt, als Nebenprodukt der Bundesgartenschau. Kassel war zerbombt, das klassizistische Fridericianum, zentraler Platz jeder Documenta, war eine Ruine. Kassel war vor dem Krieg eine schöne Residenzstadt gewesen, ein Brüder-Grimm-Märchen voller Fachwerkhäuser. Jetzt war Kassel kaputt und demütig. Ein Ort, an dem man Kunst ausstellen konnte, die wenige Jahre zuvor als "entartet" verteufelt worden war. Das Regime hatte alles zugrunde gehen lassen und war zugrunde gegangen. Die Kunst hatte überlebt. All das zeigte Kassel.

Es war nicht klar, ob die erste Documenta ein Erfolg werden würde, aber dann kamen 130 000 Menschen. Die Documenta fand auch weiter in Kassel statt. Sie wäre eine Zierde gewesen für Hamburg oder Berlin, aber sie blieb hier. Die Kasseläner sind wie die Katten: Was ihnen wichtig ist, verteidigen sie. Die Documenta ist die größte Kunstausstellung, die es gibt. Ein Weltereignis.

Robert Köster sagt: "Wenn man es unter diesem Aspekt sieht, ist Kassel das Gegenteil von langweilig." Es gibt Galerien hier, Kunstschulen, viel Kommunikation, es gab in Kassel schon eine Videothek, als kein Mensch Videos kannte. Es gibt die Galerie Alte Meister, das Graffiti-Archiv, Köster sagt: "Hier ist unheimlich viel Kunst, und viel Bewusstsein für Kunst."

Er nutzt das aus. Vor kurzem haben sie eine Kampagne gemacht für das Tapetenmuseum. Es gibt in Kassel ein Tapetenmuseum. Köster holt das Plakat, DIN A2, er legt es wie eine kostbare Decke auf den Tisch, es ist sein letztes, sagt er. Auf dem Plakat ist eine dominahafte Frau, ein Popart-Motiv aus einer der Tapeten in dem Museum. Sie trägt Bikini, Stiefel, alles aus Lackleder, und hat eine Peitsche in der Hand. Ihre linke Brust ist aus dem Bikini gerutscht.

Man kann solche Frauen auch an den Puffwänden in St. Pauli sehen, und es gab ein Geschrei, das Köster, wie jeder Werbemann, provozieren will. Über Nacht wurden in der ganzen Stadt Aufkleber über die Plakat geklebt: "Sexismus hat viele Gesichter." Aber Robert Köster sagt, die angebliche Peitsche der Frau sei eine Art Reifen und die angebliche Domina eine Dompteurin, "also eine Frau, die Männer beherrscht".

Die Debatte drehte sich um Kunst und ihre Interpretierbarkeit. In Kassel ist irgendwie immer Documenta.

Kommerz oder Leidenschaft

Eine kleine Stadt kann es wie Mönchengladbach machen. Dort spielt eine Fußballmannschaft, die in den Siebzigern mit den großen Teams mithalten konnte. Eine kleine Stadt kann, dank der Industrie, die VW-Stadt werden wie Wolfsburg oder die Pillendreherstadt wie Leverkusen. Sie kann ihr Image ausrichten an Kommerz oder Leidenschaft, sie kann unfassbares Glück haben wie Liverpool: Fußball und Beatles, etwas Populäreres gibt es nicht. Oder, sie kann auf die Kultur setzen, Hochkultur, nicht leicht konsumierbar. Ein schwieriger Weg. Kassels Weg.

Seite 3: Warum Kassel auch ohne Fussballbundesligaverein ganz oben mitspielen darf.

Jede Documenta hinterlässt Spuren in der Stadt und Relikte, die manchmal sind wie die Stadt selbst. Jonathan Borofsky hat zur Documenta 9 den "Man walking to the sky" geschaffen, ein Himmelsstürmer, der vor dem alten Hauptbahnhof ein Edelstahlrohr emporspurtet. Oder die 7000 Eichen von Joseph Beuys. Oder die Spitzhacke von Claes Oldenburg, eine tonnenschwere Installation, ein richtiges Werkzeug, das Herkules dahingeschleudert hat, der barocke Steinmann aus dem Bergpark. Die Hacke ist so angeordnet, dass sie auf einer Achse zu Herkules liegt; die Flugbahn des Wurfs ist sozusagen einberechnet, und manchmal stehen Eltern mit ihren Kindern an der Hacke und sagen: Wenn das Gequengel so weitergeht, wirft Herkules demnächst ein Steinchen ins Kinderzimmer.

Weil die Hacke einen Nutzwert hat, ist sie beliebt bei den Menschen hier, die Eichen mussten den Leuten erst zuwachsen, aber mit dem 1000 Meter langen Messingstab, der mitten im Friedrichsplatz in den Boden gerammt worden ist anlässlich der Documenta 6, kann keiner was anfangen. Immerhin ist er als Treffpunkt geeignet: Man verabredet sich dann am Kasseler Bohrloch.

Der Himmelsstürmer im Mittelgeschoss

"Kunst und das alltägliche Leben müssen einander begegnen", hat Ai Weiwei gesagt. Im Citypoint, dem großen Kaufhaus am runden Königsplatz, gibt es zur Documenta eine Kunstausstellung. Im Mittelgeschoss ist eine kleine Bühne aufgebaut, drumherum fahren die Kasseler auf Rolltreppen, sie schleppen Einkaufstaschen von Nanu Nana und Douglas, einige haben, in Katten-Art, ihr Barthaar wachsen lassen und auch das Brusthaar. Es ist heiß, die Hemden sind aufgeknöpft.

Auf der Bühne steht gerade Rainer Henze, Lehrer und Künstler, er hat eine von Schülern organisierte Galerie aufgebaut und sein ganzes Leben mit Kunst zu tun gehabt. Henze ist kein geübter Redner, das Mikro hängt wie ein toter Vogel in seiner Hand. Er spricht über Kunst und ihre Bedeutung, gerade für Jugendliche, er spricht über Oberflächlichkeit und Tiefe. Seine Zuhörer kauen die Gummibärchen, die an den Stehtischen ausgelegt sind.

Vielleicht erreicht Henze die Leute nicht, vielleicht ist er wie der Himmelsstürmer vorm alten Hauptbahnhof, der rennt und rennt und nie ankommt. Aber dann, Henze hat seine Rede beendet, stehen alle beieinander, zottelige Maler und Sponsoren in Anzügen und Menschen mit Plastiktüten, und bestimmt ist das auch eine Kunst: Leute zusammenzubringen, die sonst nie miteinander reden würden.

Niemals aufgeben

Hinter dem Königsplatz kommt bald die Leipziger Straße, eine Straße mit Friseurläden, die "Sie und Er-Salon" heißen und Reisebüros, die "ehne-mehne-weg" heißen. Die Leipziger Straße ist so, wie man sich Kassel vorstellt, miefig und spießig, die Häuser grau, die Fahrbahn viel zu breit. Sie führt zum Leipziger Platz, wo Holger Brück sein Sportgeschäft hat. Holger Brück ist in Kassel geboren, seine Mutter ist auch in Kassel geboren, aber sein Vater nicht. Deswegen ist er nur Kasselaner.

Aber in Holger Brück, Nachkriegsjahrgang 1947, bündelt sich Kassels Geschichte. Er war Fußballer, kein spektakulärer, aber fleißig und belastbar. Er spielte bei Hessen Kassel, einem Verein, der von allen unglücklichen Klubs in Deutschland der unglücklichste ist. Sie waren in der Zweiten Liga, dreimal wären sie fast in die Erste Liga aufgestiegen, dreimal scheiterten sie. Es fehlten immer nur ein paar Punkte, wenige Tore. 1985 waren sie Tabellenführer, aber sie verloren das letzte Spiel und wurden nur Vierter. Die ersten drei stiegen in die Bundesliga auf.

Holger Brück hat alles mitgemacht, oder wenigstens beobachtet, als Spieler, als Trainer, als Präsident. Er war dabei, als sie pleite gingen und sich neu gründen mussten. Er hat nie aufgegeben, im Moment ist er Vorsitzender des Aufsichtsrates. Sein Verein ist Mittelmaß in der dritten Liga. Aber, es gibt ihn noch.

Sieger der Herzen

Wenn sie damals in die Bundesliga gekommen wären, "das hätte der Stadt einen Kick gegeben", sagt Brück, "Bundesliga, da schaut ja jeder hin." Andererseits, wenn man sich nur über Fußball definiert, ist das ein gutes Zeichen? Brück findet, es geht auch ohne Fußball. Er ist ein kleiner Mann, ein Mann wie Kassel, eher still und zäh, mit über vierzig hat er noch Zweite Liga gespielt. Eine Zeitlang war er in Berlin, bei Hertha, aber er ist regelmäßig nach Kassel gefahren. "Ich fand das immer toll, wenn man von der Autobahn runterschaut und sieht das Kasseler Becken, das sieht wunderbar aus. Wenn Sie mich so fragen: Klar, ich find' Kassel schön."

Wenn er unterwegs ist mit seinem Verein, sagen die Präsidenten aus den anderen Vereinen schon mal: Na, jetzt geht es ja bei euch wieder los mit der Kunst. "Die wissen, dass es da was bei uns gibt, was sonst niemand hat."

Holger Brück ist, seit er denken kann, immer bei der Documenta gewesen und hat sich was angeschaut, er hat nicht alles verstanden, aber er war da. Er freut sich in diesem Jahr besonders auf die 1001 Chinesen, sie werden vielleicht seinen Laden stürmen und jede Menge Trikots kaufen.

Aber Holger Brück, beinahe Kasseläner, sagt, darauf kommt es gar nicht so sehr an.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: