Kunst:Warten auf die Zeit danach

Ewige Kipplage am Bosporus: Aydan Murtezaoglus Werk "ohne Titel", 1999. Foto: Salt

Man hat das Gefühl, dass Istanbul gleich aus dem Bild kippt und dass der Bosporus ausläuft – aber womöglich ist das auch nur eine Frage der Perspektive. Das gilt jedenfalls für Aydan Murtezaoğlus Werk „ohne Titel“ aus dem Jahr 1999.

(Foto: Salt)

Vor den Wahlen in der Türkei Ende Juni: Ein Streifzug durch die erstaunlich gelassene Kunst-Szene von Istanbul - "Lasst sie doch machen, sie werden schon sehen".

Von Ingo Arend

Eine einsame Frau sitzt allein auf einer Bank an einem Ufer des Bosporus in Istanbul. Je weiter sie den Kopf nach links beugt, desto mehr scheint sich auch die Stadtlandschaft vor ihr nach links zu neigen. Der Boden unter ihr bleibt gerade. Während die blaue Meerenge vor ihr und der Galata-Turm am anderen Ufer in eine bedrohliche Schieflage gerückt sind.

Aydan Murtezaoğlus Arbeit stammt aus dem Jahr 1999. Sie zeigt die Vorliebe der Künstlerin für manipulierte Bildbearbeitung und verwirrende Perspektiven. Wer will, kann etwas "hüzün" darin erkennen, die türkische Variante der Melancholie. Obwohl historisch, lässt sich das Werk auch aktuell lesen. Wirkt es doch wie ein Symbol für die politische Kipplage, in die die Türkei am Vorabend der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen Ende Juni gerutscht ist.

Murtezaoğlus Werk ist Teil der Schau, mit der vor wenigen Wochen Istanbuls innovatives Kulturhaus "Salt" seine Dependance im europäischen Stadtteil Beyoğlu wiedereröffnete. Für die Kunstszene der Stadt war das eine kleine Sensation.

Denn als das 2011 eröffnete, europaweit einzigartige Multifunktionshaus für Kunst, Architektur und Design, mit eigenem Archiv, Forschungsabteilung und einem kostenlosen Walk-in-Cinema im Dezember 2015 "aus technischen Gründen" überraschend schließen musste, nahm das alle Welt als Zeichen, dass Recep Tayyip Erdoğans repressives Regime nun auch Istanbuls Kunstzone ins Visier genommen hatte.

An der kritischen Ausrichtung des Hauses soll sich nichts ändern

Von politischem Druck war die Rede. Kurz nach der Schließung trat sein Gründungsdirektor Vasıf Kortun zurück. Der 1958 geborene Kunsthistoriker, Chef der Istanbul-Biennalen 1992 und 2005, galt als "Vater" der unabhängigen türkischen Kunstszene der Neunzigerjahre. Die Nachricht von seinem Rückzug wurde mit Entsetzen aufgenommen.

Es hat etwas Surreales, wenn dieser mehrfach ausgezeichnete Intellektuelle nun von der ägäischen Nordwestküste, wohin er sich zurückgezogen hat, seine radikalen Thesen zur Zukunft der großen Kunstinstitutionen um den Globus twittert, statt sie selbst umzusetzen.

Kortun selbst wies alle Spekulationen um die Schließung zurück. Und der jetzige Umbau des Hauses spricht für sein Dementi. Im ersten Stock von Salt, in dem nun Istanbuls führende Kunstbuchhandlung Robinson Crusoe ihren Sitz hat, wurde der kleinteilige historische Grundriss rekonstruiert, der der ersten, großflächigen Renovierung des Bürgerhauses aus dem 19. Jahrhundert zum Opfer gefallen war - angeblich der Grund, warum die Stadtverwaltung die Schließung verfügte.

Doch die Gerüchte über Druck hinter den Kulissen halten sich bis heute. Ferit Şahenk, Chef der türkischen Garanti-Bank, die den 2001 als "Platform Garanti Contemporary Art Center" gegründeten Kunstraum unterhielt, galt nicht gerade als Gefolgsmann von Präsident Erdoğan. Die beliebte Idee von Kortun als Bauernopfer wird freilich dadurch widerlegt, dass der linksliberale Kurator auch nach seinem Rücktritt noch beratend im Salt-Vorstand blieb.

An der kritischen, interkulturellen Ausrichtung des Hauses soll sich aber auch unter Meriç Öner, seiner Nachfolgerin, nichts ändern. Die studierte Architektin war durch eine Salt-Ausstellung über die Kulturgeschichte türkischer Sommerhäuser an der Ägäis bekannt geworden. 2012, ein Jahr vor Gezi, protestierte sie zusammen mit 40 türkischen Architekten gegen die Baupläne der Stadtverwaltung an Istanbuls zentralem Taksim-Platz.

Der ausgebildete Marketingfachmann Şahenk, einer der reichsten Männer der Türkei, hat inzwischen selbst Finanzprobleme. Im vergangenen Jahr verkaufte er seine Garanti-Anteile der spanischen BBVA-Bank. So gesehen ist das "türkische" Salt heute ein spanisches Kunsthaus mit türkischem Hintergrund.

Salt, so definierte es Kortun einst, sei "all das, was für Innovation und Veränderung" steht. Dass dieses Haus nun ausgerechnet mit der Ausstellung von Aydan Murtezaoğlu und Bülent Şangar, zwei eher stillen Figuren aus den Neunzigerjahren der türkischen Kunst, in sein zweites Leben startet, wirkt auf den ersten Blick überraschend.

Mit dem Satz: "Mich stört der Status des Außenseiters, der mir als Künstlerin automatisch auferlegt wird, was ich eher will, ist eine Sicht des Inneren von innen" positionierte sich Murtezaoğlu damals bewusst anders als die gebildete, westlich orientierte Mittelschicht, der auch viele Künstler entstammten. Zur Parteigängerin der traditionellen Mehrheitstürkei mutierte sie mit dem unkonventionellen Bekenntnis freilich nicht.

Vielmehr destillierte sie aus dieser Position ein Bild des Konservatismus, das in der Türkei von heute womöglich wieder angebracht wäre. Musterbeispiel dafür ist eine Arbeit wie "Bei Zimmertemperatur". Auf der Fotografie aus dem Jahr 2000 ist eine Frau zu sehen. Mit dem Rücken zum Betrachter steht sie am offenen Fenster einer einfachen Mietshauswohnung und raucht, die trübe Kulisse Istanbuls zu Füßen.

Ein beeindruckendes, vieldeutiges Bild ist das: Symbol für die Umweltprobleme der Megacity, den eingeschränkten Lebensraum der Frau in der Türkei und die prekären Grenzen zwischen innen und außen in einem Land, in dem die Vokabel "öffentlicher Raum" eher mit der Demonstration staatlicher Macht als mit dem Freiraum der Zivilgesellschaft konnotiert ist.

Manche gehen ins Exil. Andere bleiben und bauen etwas auf

Die Ausstellung lässt sich nicht als Hinwendung zum konservativen Mainstream deuten. Sonst würde darin nicht Şangars Lichtbox "Globalisation, State, Misery, Violence" hängen. Auf der sich der Künstler in einer Doppelrolle präsentiert: Mit Schlagstock in der Hand prügelt er auf sich selbst, am Boden kniend, ein. Die Schau ist aber auch kein Symbol für apolitischen Rückzug und Introspektion am Vorabend der endgültigen Erdoğan-Machtfülle.

Zwar drücken der seit zwei Jahren bestehende Ausnahmezustand, 1300 verbotene NGOs, mehr als 150 verhaftete Journalisten und die Inhaftierung der kurdischen Malerin Zehra Doğan der Szene auf das Gemüt. Von Angst oder gar "Selbstzensur" (wie das amerikanische Online-Kunstmagazin Hyperallergic mutmaßt) ist in der Ausstellung "Metaphorical Space" aber nichts zu spüren.

In einem staubigen Kellerraum im Antiquitäten-Stadtteil Çukurcuma hat die Künstlerin Pınar Öğrenci acht Positionen kritischer Kunst versammelt, die vom Gezi-Aufstand bis zum "Arabischen Frühling" alle Explosivthemen dieser Tage Revue passieren lässt. "Marsistanbul" nennt die 1973 geborene Architektin ihren im Jahr 2000 gegründeten Offspace. Sie selbst saß tagelang in Haft, als sie 2016 mit Freunden zu einem "Friedensmarsch" gegen die Offensive des türkischen Militärs im kurdischen Südosten aufbrach.

Zwar ist die Verunsicherung angesichts der immer repressiveren Lage nicht zu übersehen. Beispielsweise zogen die Gründer einer der führenden Galerien der Stadt deshalb nach Zürich. Doch andererseits: Wenn sie das Gefühl hätten, dass die Kunst in Istanbul keine Zukunft mehr hat, würde die Unternehmerfamilie Eczacıbaşı, Mäzenin der Istanbuler Stiftung Kunst und Kultur (IKSV), nicht ihr privates Kunstmuseum Istanbul Modern im alten Hafen der Stadt von Renzo Piano neu entwerfen lassen.

Für drei Jahre hat das Haus im historischen Gebäude der Union Francaise, vis-à-vis des legendären Pera Palace Hotels gelegen, ein pittoreskes Übergangsquartier bezogen. Zur Eröffnung gab es eine große Tony-Cragg-Schau. Das Beste, was man über die etwas konventionelle Idee sagen kann, ist, dass sie immerhin die Verbindung mit der westlichen Formensprache hält. Und zwar zu einem Zeitpunkt, in dem das Land mehrheitlich in Osmanen-Nostalgie schwelgt.

Auch die millionenschwere Koç Holding, umstrittener Hauptsponsor der Istanbuler Kunstbiennale, hätte wohl nicht im Kleine-Leute-Bezirk Dolapdere ihr neues Privatmuseum "Arter" samt öffentlichem Park und Bibliothek errichtet. Im September 2019 soll endlich die mehrfach verschobene Eröffnung steigen - wenn nicht wieder plötzlich eine Baugenehmigung fehlt.

Liegt es am missglückten Wahlkampfauftakt von Erdoğan? Der Wechselstimmung im Land? An der neuen Einigkeit der Opposition? Oder nur am Ramadan? Schwer zu sagen, warum die Stimmung in der Szene so entspannt ist. "Ich bin nicht hoffnungslos" sagt die Künstlerin Sibel Horada, die in Marsistanbul mit einer Holzkohle-Installation an den großen Brand von Izmir 1922 erinnert. Die Historikerin und Feministin Asena Günal stimmt zu.

Grund zur Sorge hätte sie dennoch. Sitzt doch mit dem allseits geliebten Kunstmäzen Osman Kavala seit weit über 200 Tagen der Mann wegen angeblicher Umsturzpläne im berüchtigten Gefängnis Silivri, der mit "Depo" das Haus finanziert, dessen Programm sie koordiniert. In einem alten Tabaklager im Schatten des Galata-Turms reiht das Nervenzentrum der Kunst-, Zensur- und Menschenrechtsopposition unermüdlich eine kritische Schau an die andere.

"Die beobachten doch mit Argusaugen, was hier passiert", spöttelt Tankut Aykut, Co-Chef der 2016 gegründeten Galerie Öktem Aykut, über die vielen türkischen Künstler und Künstlerinnen, die sich derweil nach Berlin abgesetzt haben. "Dabei ist die Stimmung im Moment okay", befindet der 34-jährige Kulturwissenschaftler, der fließend Deutsch spricht. Würde Erdoğan bei den Wahlen der gewünschte Triumph verweigert, so sein Kalkül, würden auch die Karten der Kultur neu gemischt.

Selbst den jüngsten kulturpolitischen Schachzug der Regierung sieht er deshalb gelassen. Mit dem Sakrileg eines Koran-Zitats ausgerechnet in der säkularisierten Hagia Sophia eröffnete der Präsident Ende März die erste "Yeditepe-Biennale". Sieben Hügel - der alte Name Istanbuls, gab das Label für eine große Schau traditioneller Künste von der Miniaturmalerei bis zur Kalligrafie. Veranstaltet von der erzkonservativen Istanbuler Stadtteilgemeinde Fatih und einer "Stiftung der klassischen türkischen Kunst".

"Senin Bir Sanatin Var - Du hast die Kunst", das Motto der gigantischen Schau in 23 historischen Venues vom Topkapı-Palast bis zum Großen Basar liest sich freilich nicht gerade wie eine Generaloffensive zur Erlangung kultureller Hegemonie. "Die fühlen sich ausgeschlossen vom inneren Kreis der Moderne um die Istanbul-Biennale der IKSV. Die wollen auch etwas haben, wo sie dazugehören" meint Aykut lakonisch.

Dass die Yeditepler, wie zu hören war, in Zukunft ein Wörtchen dabei mitreden wollen, wer die Türkei auf der Kunstbiennale in Venedig vertritt, ist dem Galeristen fast egal: "Lasst sie doch machen, sie werden schon sehen, was sie für eine Reaktion damit international erzielen werden."

Für Aykut hat Erdoğan seinen Zenit überschritten: "Er merkt, dass er den Zugriff verliert." Also warten alle auf die Zeit danach. Wahrscheinlich hat Salt deswegen in seinem Haupthaus in Galata eine kleine Schau mit dem Titel "Bureau of unspecified Services" eingerichtet. Zehn Gruppen aus aller Welt loten die Chancen ästhetischer Feldforschung aus.

"Fight for your rights straight on" hat das serbische Frauenkollektiv Škart, das sich der "Architektur menschlicher Beziehungen" widmet, in seinem Beitrag auf ein Handtuch gestickt. Auch am Bosporus ist Demokratie eben eine nie endende Aufgabe. "Die Menschen können nur ethisch besser werden, wenn sie sich emanzipieren. Genau das bewirkt die Kunst", schreiben Aydan Murtezaoğlu und Bülent Şangar in einem ihrer Manifeste.

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