Kunst:Revolution mit Seeblick

Wer die Kunst der Moderne kennenlernen will, muss nach Hannover reisen. In seinem erweiterten Bau kann das Sprengel-Museum erstmals seinen ganzen Reichtum entfalten.

Von Gottfried Knapp

Die Entwicklungsgeschichte des Sprengel-Museums in Hannover führt in schöner Deutlichkeit vor, wie das animierend üppige Geschenk eines Kunstsammlers die Öffentlichkeit zu entsprechend großzügigen Reaktionen und danach immer wieder zu passenden Ergänzungen zwingen kann. Als der Schokoladenfabrikant Bernhard Sprengel 1969 seine fabelhaft reiche Sammlung zur Kunst der Moderne der Stadt Hannover als Geschenk vermachte und auch noch versprach, bei dem zu errichtenden Museumsneubau zehn Prozent der veranschlagten Kosten zu übernehmen, entschloss man sich in Hannover, ein neues Ausstellungshaus am Ufer des Maschsees zu errichten. In ihm sollten die Sammlungen des Ehepaars Sprengel mit den ebenfalls beachtlichen Moderne-Sammlungen der Stadt Hannover und des Landes Niedersachsen vereint werden. So entstand ein Kunstmuseum des 20. Jahrhunderts, dessen Bestände zur klassischen Moderne zum Besten gehören, was in Deutschland zusammengetragen worden ist.

Das revolutionäre Werk von Kurt Schwitters ist nirgendwo besser zu erleben als in Hannover

Doch in dem von der Architektengruppe Peter und Ursula Trint (Köln) und Dieter Quast (Heidelberg) entworfenen Museumsbau mit der geknickten unterirdischen "Straße", den teilweise extrem niedrigen Räumen ohne Oberlicht und den beim Rundgang lästig oft wechselnden Ebenen konnten die Sammlungen ihre Besonderheit immer nur in Ausschnitten andeuten. Als dann im Jahr 1992 der von Anfang an vorgesehene stattliche Ergänzungsbau mit seinen guten Oberlichträumen, einer Wechselausstellungshalle und einem Auditorium bezogen wurde, konnte sich das Sprengel-Museum für längere Zeit als das führende Museum Norddeutschlands auf dem Gebiet der Kunst des 20. Jahrhunderts profilieren. Darüber hinaus hat es sich zur Aufgabe gemacht, das unerschöpflich vielfältige Werk eines Klassikers der Moderne, des in Hannover geborenen Erz-Dadaisten und Wort- und Bild-Anarchisten Kurt Schwitters, zu sammeln, zu rekonstruieren und zugänglich zu machen.

Die Möglichkeiten, die in den übernommenen Sammlungen, in den dazugekommenen stattlichen Schenkungen und im Bestand der Neuerwerbungen steckten, waren damit aber noch keineswegs ausgereizt. Und so entschloss man sich im Jahr 2010, den am Ufer des Maschsees nach Süden vorstoßenden Flügel durch einen ähnlich lang gestreckten schmalen Baukörper ungefähr aufs Doppelte zu verlängern. Das Schweizer Architekturbüro Meili & Peter schlug für diesen Neubau einen zweigeschossigen Riegel vor. Dessen in den Boden abgesenktes unteres Geschoss - es ist für Werkstätten und Depots reserviert - zieht sich so weit von der Straße zurück, dass der darauf sitzende Galerietrakt, ein anthrazitgrau gestrichener Betonblock mit reliefartig rhythmisierter Fassade, über dem Boden zu schweben scheint.

Um die drei verschiedenen Niveaus, auf denen sich im Altbau die Ausstellungstrakte bewegen, mit dem im Neubau angeschlagenen vierten Niveau - es liegt irgendwo in der Mitte - zu verbinden, haben die Architekten einen die gesamte Gebäudehöhe beanspruchenden hohen Saal zwischen Altbau und Neubau geschoben, in dem eine Rampen- und Treppenspirale in einer Ovalbewegung die Eingänge auf den vier verschiedenen Niveaus bequem miteinander verbindet. Die Besucher, die in diesem auch für Empfänge nutzbaren, zum Hof hin in ganzer Höhe verglasten Saal aus einem Ausstellungstrakt in einen anderen überwechseln, umschreiten dabei ein von der Decke hängendes riesiges Mobile von Alexander Calder.

Auch in dem nach außen sonst hermetisch geschlossenen neuen Ausstellungstrakt haben die Architekten an drei Stellen den Blick hinaus ins Freie geöffnet. In der ersten der verglasten Loggien schaut man zurück auf den Altbau, in der zweiten hinaus auf den See und in der dritten hinunter auf den noch zu begrünenden Hinterhof. Die zehn im Grundriss konventionell rechteckigen neuen Ausstellungssäle sind in zwei parallelen Reihen angeordnet, ermöglichen also einen räumlich wie historisch schlüssigen Rundgang ohne Umwege und Abzweigungen. Durch leichte Verschiebungen der Raumachsen wollten die Architekten den Sälen etwas "tänzerisch" Bewegtes geben, doch dieser Auflockerungseffekt ist allenfalls auf dem an der Kasse ausliegenden Grundrissplan des Museums nachzuvollziehen, teilt sich den von Saal zu Saal Ziehenden aber an keiner Stelle mit.

Umso direkter können die Besucher unter dem mustergültig hellen, auch an trüben Tagen natürlich wirkenden Oberlicht die hier ausgestellten Werke aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genießen. Auffällige Großformate wird man hier vergeblich suchen. Man spürt, dass der Sammler, dem das Museum seine Existenz verdankt, zunächst für seine Wohnräume eingekauft hat. Man erkennt aber auch, dass er bei seinen Käufen von Kennern der Moderne bestens beraten worden ist. Nur ganz wenige Museen in Deutschland können einen so breiten und vielfältigen Überblick über das Werk von Max Beckmann geben. Und auch Paul Klee, Emil Nolde, Pablo Picasso, Fernand Léger, Jean Arp und Max Ernst sind im Sprengel-Museum beneidenswert reich vertreten. Der größte Saal ist für die Künstler des "Blauen Reiters" reserviert; er ist kraftvoll rot ausgeschlagen. Die Bilder der "Brücke"-Maler kommen im Nachbarraum vor gelben Wänden leuchtend zur Wirkung.

In den drei Bauabschnitten des Sprengel-Museums lässt sich also die Entwicklung der internationalen Museumsarchitektur vom experimentellen Avantgardismus der Siebzigerjahre - er hat fast nur schwer bespielbare Räume hinterlassen - über die technizistischen Raumkonstruktionen der Neunziger bis zur sachlichen White-Cube-Architektur der Gegenwart gut verfolgen. Erst im dritten Haus konnten die für konventionelle Galerieräume geschaffenen Werke der klassischen Moderne ihre ganze Ausdruckskraft entfalten.

Nur Schwitters, für den im Untergeschoss des Altbaus immer schon eine ganze Flucht von Kabinetten reserviert war, ist mit seinen Hinterlassenschaften am angestammten Ort geblieben. Und da man dort unten in den Achtzigern seinen im Krieg zerstörten Merz-Bau rekonstruiert hat, können Besucher diese bildhauerisch-architektonisch radikale Antwort auf die Möglichkeiten der Abstraktion wie eine Wunderkammer oder ein Gruselkabinett betreten.

Schon zuvor hatte man im Sprengel-Museum ein anderes weltweit gefeiertes Gesamtkunstwerk der Moderne mit den erhaltenen Originalen wieder zusammengesetzt: das von El Lissitzky 1928 in Hannover realisierte "Kabinett der Abstrakten". Um diese beiden Avantgarde-Manifeste der Zwischenkriegsmoderne sind Aktionsrelikte, Materialbilder und Collagearbeiten der Siebziger- bis Neunzigerjahre versammelt. Sie fangen - Stichwort Fluxus - mit quasi revolutionärer Geste dort wieder an, wo Schwitters und Lissitzky in den Dreißigern von den Nazis jäh unterbrochen worden sind.

Die übrigen Räume im Untergeschoss des Altbaus sind den seit 1979 zusammengetragenen profunden Sammlungen zur Geschichte der Fotografie zugeteilt. Dort können drei bis vier kleinere Einzelausstellungen nebeneinander gezeigt werden. Darüber in den Galeriesälen des Altbaus hat das Museum seine klug ausgewählten Bestände zur "Kunst nach 1945" neu geordnet. Dass James Turrell dort gleich drei seiner raren Lichträume auf Dauer eingerichtet hat, zeigt, wie gut man in Hannover international vernetzt ist.

Um die erste Gesamtpräsentation der eigenen Bestände hat das Sprengel-Museum einige Sonderausstellungen gruppiert. So dürfen sich die Druckgrafikkünstler Gert & Uwe Tobias mit Collagen an ausgewählten Blättern der Grafiksammlung messen. Von Niki de Saint Phalle, die einen Großteil ihres Werks dem Museum vermacht hat, sind in der "Einblickshalle" neben dem Haupteingang die spektakulärsten ihrer bunten Plastiken und Materialbilder versammelt. Und der Videokünstler Julian Rosefeldt hat mit seiner Großinstallation "Manifesto" den ganzen Sonderausstellungssaal in Beschlag nehmen dürfen: Auf dreizehn Projektionsflächen laufen Filme, in denen die australische Schauspielerin Cate Blanchett Kunstmanifeste der Moderne theatralisch nachzelebriert, indem sie von Szene zu Szene die Rolle wechselt.

Das Sprengel-Museum hat derzeit also mehr zu bieten als jemals zuvor. Und wer den dort begonnenen Spaziergang durch die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts in Richtung Vergangenheit verlängern will, der muss nur ein paar Hundert Meter stadteinwärts zum Prunkbau des Niedersächsischen Landesmuseums gehen. In der dortigen Landesgalerie warten vorzügliche Arbeiten von Paula Modersohn-Becker, Lovis Corinth, Max Slevogt und Max Liebermann und vier atmosphärisch überwältigende Landschaftsdarstellungen von Caspar David Friedrich - sein Tageszeiten-Zyklus - auf die Besucher.

Die Gesamtschau 130% Sprengel. Sammlung pur ist noch bis 29. Januar 2017, die Sonderschauen Niki de Saint Phalle und Julian Rosefeldt noch bis 7. Mai 2017 zu sehen (www.sprengel-museum.de).

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