Kunst:Kleine Kritzeleien, große Gedanken

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Edi Rama ist albanischer Ministerpräsident und Künstler und eigens zur Eröffnung seiner Ausstellung in der Galerie Kampl angereist. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Der albanische Ministerpräsident Edi Rama ist auch Künstler und stellt in München aus

Von Evelyn Vogel, München

Glaubt man den einschlägigen Psycho-Foren zur Interpretation von Telefonkritzeleien, dann muss der Albanische Ministerpräsident Edi Rama sowohl humorvoll als auch ernsthaft, emotional wie rational, aggressiv und durchsetzungsstark, aber auch schüchtern, ängstlich und zurückhaltend sein. So viel zur allgemeinen psychologischen Deutung dieser Art von Zeichnungen, die fast jeder von sich selbst kennt. Denn wer hat nicht schon hin und wieder während eines Telefonats auf die Schreibtischunterlage und herumliegende Zettel gekritzelt oder vorhandene Schriftzüge phantasievoll bis an den Rand des Papiers verlängert.

Die "Daily Drawings" von Edi Rama - die Galerie Kampl zeigt zur Open Art eine Auswahl von Blättern aus den vergangenen fast 15 Jahren - entstehen tatsächlich in diesen und ähnlichen Situationen: während er telefoniert, arbeitet, in offiziellen Sitzungen und Besprechungen ist. Wann auch immer und egal, was er an Papier vor sich hat, es wird zum Bildträger. So finden sich Kalenderblätter mit Termineinträgen, Faxe und Briefe (zum Teil mit Stempel und Unterschrift von offiziellen Stellen) und ausgedruckte E-Mails. Denn es ist keine künstlerische Attitüde, kein "so tun als ob". Es sind tatsächlich Blätter aus seinem Büro. Er selbst sagt: "Ich kann nicht anders. Ich muss zeichnen. Jeden Tag. Manchmal sind es mehrere Blätter, manchmal ist es nur ein einzelnes." Wie viele Blätter auf diese Weise entstanden sind? "Vermutlich Tausende" sagt er beim Interview in einem Münchner Hotel. Rama ist eigens angereist, um an der Eröffnung seiner Ausstellung teilzunehmen. Nicht als Staatsgast, sondern als Künstler.

Man könnte seine zumeist farbintensiven Blätter (anfangs hat er nur in Schwarz-Weiß gearbeitet) also einfach als die Telefonkritzeleien eines Politikers abtun - wäre Edi Rama nicht auch ein an der Akademie der Künste in Tirana ausgebildeter Maler. Seine ersten internationalen Schritte in der Kunstszene unternahm er gemeinsam mit dem für seine Videoarbeiten bekannten Landsmann Anri Sala Mitte der 1990er Jahre in Paris, wohin er zeitweilig ausgewandert war. Er hat seither an Biennalen in São Paulo und Venedig teilgenommen. Als Bürgermeister von Tirana, ein Amt, das er von 2000 bis 2011 inne hatte, ließ er die Stadt bunt anmalen. Was wie ein Gag wirkt, gab den Menschen tatsächlich etwas Hoffnung. Es war "ein Zeichen des Aufbruchs", sagt er heute.

Seit Rama 1998 in die Politik gegangen ist, ist sein Büro auch sein Atelier. Auf seinem Schreibtisch stehen unzählige Schüsseln und Gestelle mit Fettkreiden, Tinten- und Filzstiften. Seine Arbeiten hätten sich verändert, seit er Politiker ist, sagt er, aber wie, das könne er nicht beschreiben. "Meine Gedanken führen meine Hand, aber ich sehe die Bilder nicht als Ausdruck meiner Seelenlage", versichert er. Würde man die zwischen Figuration und Abstraktion schwebenden Werke interpretieren wollen, müsste man vermuten, Rama sehe den menschlichen Organismus als Metapher für politische und wirtschaftliche Kreisläufe: So manches Motiv weckt Assoziationen an Herz und Lunge, die Leben hineinpumpen. Sein zupackendes Talent als Politiker würde mit Formen wie den Händen übereinstimmen. Auch Gesichter und menschliche wie tierische Figuren sind auszumachen. Zugleich zersplittern die meisten Kompositionen aber wie kubistische Werke und verdichten sich an anderer Stelle zu biomorphen Strukturen.

Die Kritzeleien, hat er gelesen, sollen gut sein gegen Stress. Davon hat er als Ministerpräsident einigen zu verarbeiten, denn Albanien erlebt einen Exodus junger Menschen gen Westen. Aufhalten, so glaubt er, kann er sie nicht. Aber er will sie gut ausbilden, damit sie nicht als Asylsuchende, sondern als Arbeitskräfte an die Tore Europas pochen. Und dann, so hofft er, kehren sie dereinst zurück - so wie Edi Rama selbst.

Edi Rama: Daily Drawings, Galerie Kampl, Buttermelcherstraße 15, bis 10. Oktober, Di-Sa 12-19 Uhr, während der Open Art Sa/So 11-18 Uhr

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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