Kunst in Russland:Ikonen gegen McDonald's

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Nach der Wende wurde die Kunst in Russland provokativer, aber die Prozesse gegen sie nahmen an demonstrativer Strenge zu, bis hin zum Fall Pussy Riot. Eine Studie untersucht dieses Schlachtfeld Kunst.

Von Hannes Vollmuth

Am 18. Januar 2003 drangen sechs orthodoxe Gläubige in das Moskauer Sacharow-Zentrum ein, schleuderten die dort ausgestellten Kunstwerke auf den Boden und schrieben mit roter Farbe "Ihr seid Teufel" an die Wand. Vier Tagen zuvor hatte dort die Ausstellung "Achtung, Religion!" eröffnet. Jesus Christus war auf mehreren Arbeiten zu sehen, zum Beispiel zusammen mit einem gelben McDonald's-Logo, unter das der Künstler Alexander Kosolapov noch "This is my body" geschrieben hatte, das ist mein Leib. Selbstverständlich kam es zum Prozess. Nur saßen nicht die Bilderstürmer auf der Anklagebank, sondern die Ausstellungsmacher und Künstler.

Es wurde der erste große Kunstgerichtsprozess Russlands seit 1989. Und die Kunstwelt war sprachlos, schockiert. Ein Zeuge der Anklage, Ausbilder für militärischen Nahkampf und Vorsitzender der Organisation Volksverteidigung, sagte im Gerichtssaal, die Künstler hätten ein Happening wie Satan in der Hölle vollführt. Am Ende verurteilte das Gericht die Ausstellungsmacher zu einer Geldstraße von mehreren Tausend Euro - wegen Schürens nationaler, rassischer und religiöser Feindschaft.

Das neue Russland sucht nach sich selbst, auch im Umgang mit Kunst

Der europäische Reflex zu diesen Vorgängen war eindeutig: Barbarei, typisch Russland, Zustände wie im Mittelalter. Die Züricher Kunsthistorikerin Sandra Frimmel rückt in ihrem Buch "Kunsturteile" diese selbstsichere Meinung von der Jenseitigkeit Russlands jetzt zurecht. Sie kommt zu dem Urteil: Was in russischen Kunstgerichtsprozessen gerade geschieht, geschah in vergleichbarer Form bereits im Westen.

Frimmel hat die Akten zweier großer Kunstprozesse ausgewertet. Von 2003 bis 2005 standen die Ausstellungsmacher von "Achtung Religion!" vor einem Moskauer Gericht, von 2007 bis 2010 die Verantwortlichen der Schau "Verbotene Kunst 2006". Frimmel analysiert alle verfügbaren juristischen Dokumente, Anklageschriften, Expertengutachten, Zeugenaussagen. Für "Achtung Religion!" konnte sie zudem auf transkribierte Audioaufzeichnungen zurückgreifen, die ihr das angeklagte Sacharow-Zentrum zur Verfügung stellte.

"Kunsturteile" ist eine Promotionsschrift und dementsprechend mit Fußnoten gespickt. Aber weil die Autorin die Prozessgeschichte in die Kunstgeschichte einbettet, erfährt man eine Menge darüber, wie die Gesellschaft im Laufe der Zeit mit der Kunst umgegangen ist. Die russischen Kunstprozesse sind der Meißel, mit dem sie noch einmal den modernen Kunstbegriff herausmodelliert. Frimmel geht von einer tiefen Zäsur aus, die Russland 1990 erlebte. Das Interesse an Kunst ist seitdem gewachsen, der kirchliche und staatliche Argwohn gegenüber der Kunst aber auch. Noch 1995 konnte der Künstler Anton Litwin am Karfreitag durch Moskau laufen und auf einem Banner fordern: "Kreuzige ihn!" Vier Jahre später aber wurde ein Strafverfahren gegen Avdey Ter-Oganyan eingeleitet, der auf der Moskauer Kunstmesse Ikonenschändung auf Bestellung und gegen Bezahlung angeboten hatte.

Nach Frimmel war es kein Zufall, dass es 2003 zum ersten großen russischen Kunstprozess gekommen ist. Das neue Russland sucht nach sich selbst, auch im Umgang mit Kunst. Hinzu kommt: Die Kunstgeschichte Russlands nahm einen anderen Verlauf als die Europas. Russland war zwar führend in der Avantgarde-Bewegung, aber die meiste Zeit davor und danach abgeschnitten vom westlichen Kunstdiskurs. Spätestens seit 1932, als man den sowjetischen Kunstbetrieb zentralisierte, kann von europäischen Traditionslinien in Russland keine Rede mehr sein.

Kein Wunder, dass in den russischen Kunstprozessen ungleichzeitige Bildbegriffe herrschten, Anklage und Verteidigung mit unvereinbaren Bildbegriffen operierten. Für die religiös motivierten Ankläger dürfen Ikonen niemals Bestandteil eines Kunstwerks sein, sind sie doch ein Fenster in die göttliche Ewigkeit. Der Künstler habe die Finger von Ikonen zu lassen und sollte Werke schaffen, die den Betrachter läutern und zur Tugend führen. Dass Kunstwerke sich seit der Renaissance vom Joch der Religion befreit haben, ist für die Anklage kein Argument. Im Gegenteil: Wenn moderne Künstler religiöse Motive aufgreifen, dann seien ihre Kunstwerke Tatwerkzeuge, die nur eines zum Ziel hätten - den russischen Staat zu schädigen.

Dagegen argumentiert die Verteidigung mit einem undogmatischen, postmodernen Kunstbegriff: Die Kunst könne jedes Thema aufgreifen, auch die Religion. Was die Gegenwartskunst aber nicht geben könne, sei eine universal gültige Bedeutung, da diese vom jeweiligen Kontext und Betrachter abhängig sei. In den Moskauer Gerichtssälen geraten also nicht nur Künstler mit Staatsanwälten aneinander. Es prallen auch religiöse Bildtraditionen und postmoderne Subjektivität aufeinander.

Man könnte, wie gesagt, diese Vorgänge unter dem Schlagwort russische Barbarei verbuchen. Würde Frimmel nicht plausibel nachweisen, dass dieselben Argumente bereits in den USA, in Prozessen während der McCarthy-Ära, ausgetauscht wurden, aber auch in Deutschland, im Prozess gegen Klaus Manns Roman "Mephisto". Schon damals wurde wie heute in Russland verhandelt: Was wiegt schwerer? Die Intention des Autors oder das, was das Kunstwerk anzurichten vermag? Russland und sein - zugegeben - immer krasseres Vorgehen gegen Künstler hat Vorbilder. Neu ist dagegen das Theater, das die Prozesse inszenieren. Das Theatrale ist eigentlich schon per se ein fester Bestandteil bei Gericht. Es gibt Sprechrollen, eine Bühne, einen mehr oder weniger festen Ablauf und das große Finale der Urteilsverlesung. Die russischen Kunstprozesse gehen aber noch einen Schritt weiter. Die Vertreter der Anklage und der Verteidigung sind beide Male fast dieselben, genauso die Zeugen, die aufmarschieren, die Aussagen, die gemacht, die Experten, die gehört werden. Zufall? Wohl kaum. Frimmel spricht davon, dass Russland gerade dabei ist, seinen Kunstbegriff performativ zu erzeugen. Das Gerichtstheater läuft nach einem Skript ab, auf das jeder folgende Kunstprozess Bezug nimmt und dem das Ergebnis schon eingeschrieben ist - eine traditionelle, antimoderne Auffassung von Kunst.

Die Kunst war schon immer ein Schlachtfeld

Ganz am Ende kommt Sandra Frimmel dann doch noch auf die feministische Frauen-Punk-Band Pussy Riot zu sprechen, deren Mitglieder im März 2012 verhaftet wurden. Frimmel betrachtet Pussy Riot als eine Gruppe politischer Aktivisten, die sich der Kunst zwar bedienen, aber keine Künstler im engeren Sinne sind. Aber natürlich erzählt auch das Schicksal Pussy Riots von einem Russland, das seine Kunstprozesse dazu benutzt, Macht auszuüben und Kritiker zu bekämpfen. Man könnte es für eine Ironie der Geschichte halten: Dieselben Argumente, die der inzwischen postmoderne Westen in seinen Kunstprozessen mal gebrauchte, werden heute wieder gegen russische Künstler eingesetzt. Oder anders formuliert: Die Kunst war schon immer ein Schlachtfeld.

Sandra Frimmel: Kunsturteile. Gerichtsprozesse gegen Kunst, Künstler und Kuratoren in Russland nach der Perestroika. Böhlau Verlag, Köln 2015. 312 Seiten, 39,90 Euro.

© SZ vom 04.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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