Kunst in der BRD:Die Verfassung der Kunst

Bild dir deine Meinung: Der Berliner Gropius-Bau zeigt die Ausstellung "60 Jahre - 60 Werke" - Ostkunst darf aber erst nach der Wende mit rein.

Gustav Seibt

Was soll man dagegen schon haben? Die Idee des Ausstellungsimpresarios Walter Smerling hat den Reiz von Zirkus und Revue, da darf es gern auch nach Raubtier riechen. Die sechzig Jahre der Bundesrepublik Deutschland, die uns derzeit auf allen Kanälen mit den immergleichen Dokumentaraufnahmen vorgebetet werden, kontert die große Ausstellung, die Smerling in den Berliner Gropius-Bau gehievt hat, mit sechzig Kunstwerken der westdeutschen Nachkriegskunst, von Werner Heldt (1949) bis Tobias Rehberger (2009). Dieses Prinzip Chronik wird im Katalog ergänzt durch jeweils ein prägnantes Jahresfoto - 1969 naheliegenderweise Rudi Dutschke, 1987 der tote Barschel in seiner Badewanne und so fort -, in der Ausstellung durch Video- und Audiodokumente, wo dann allerdings auch wieder Konrad Adenauer das Grundgesetz verkündigt oder die Mauer fällt.

Kunst in der BRD: In der Berliner Schau treten alle unter schwarz-rot-goldenem Banner an. So auch Jörg Immendorff (Für wen?, 1973).

In der Berliner Schau treten alle unter schwarz-rot-goldenem Banner an. So auch Jörg Immendorff (Für wen?, 1973).

(Foto: Foto: Atelier Jörg Immendorff, 2009)

Also Kunst und Zeitgeschichte in gegenstrebiger Fügung, oder mit Nietzsche gesagt: Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft, da muss doch ein Zusammenhang bestehen. Den Zusammenhang stiftet hier nicht die Geschichte der Kunst, sondern die freiheitlich demokratische Grundordnung. Gedacht ist die Schau als Hommage an den ersten Satz von Artikel 5,3 des Grundgesetzes: "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei." Er habe, so die Kuratoren - unter ihnen federführend für die Kunstkritik die Grand Old Schachtel Peter Iden - im Nachkriegswestdeutschland eine "beispiellose Kunstblüte" und "alle fünfzig Kilometer ein Museum" ermöglicht.

Ostkunst erst ab 1990

Hier liegt auch die Begründung für den Ausschluss der DDR-Kunst: Es geht nicht um "deutsche" Kunst wie noch vor zehn Jahren an derselben Stelle in einer von Klaus-Peter Schuster initiierten Übersicht, sondern um die Kunst des siegreichen Teilstaats im Westen. Das kleine logische Problem dabei ist, dass der zu Recht gerühmte Grundgesetzparagraph die Kunst ja von eben jenen Aktualitätspflichten und -nöten entbunden hat, die so eine Chronik sachlich erst begründbar machen würden - ganz im Gegensatz zur Kunst der DDR, die auf ihre offene und versteckte Weise viel direkter auf Politik und Zeitgeschichte reagieren musste, gerade weil sie weniger frei war.

Doch das sind Haarspaltereien. Smerling und die Seinen haben äußerst potente Partner gefunden, als Geldgeber die RWE, die sich auch in der Hauptstadt gern mit einem Blockbuster präsentiert, als "Medienpartner" die Bild-Zeitung, die in einer von den Kuratoren mitbetreuten Serie die Exponate abbildet und erläutert - schließlich sei der Name des Blattes, so Nicolaus Fest, der Kulturchef, nicht unwitzig - "Bild" und nicht "Text" oder "Schlagzeile". Und so schafft es etwa der 103 Jahre alte Rupprecht Geiger an einem einzigen Wochenende, mehr Betrachter zu erreichen als in sämtlichen Ausstellungen seines Lebens zusammengenommen. Neid!

Dieses Unternehmen ist also, man kann es nicht leugnen, "très Bundesrepublik", und insofern erübrigen sich die Fragen nach der Ostkunst, die aus Berliner Lokalsicht mit Strenge längst gestellt wurden. Ostdeutsche Künstler erhalten Zutritt ab 1990, als die DDR "Beitrittsgebiet" wurde, darunter natürlich nicht zuletzt der laute Wolfgang Mattheuer. Davor sind es die Republikflüchtlinge wie Gerhard Richter, Baselitz und Penck, die im Westreigen mitschwingen dürfen. Und daher ist es auch völlig in der Ordnung, dass die ostdeutsche Bundeskanzlerin die Schau jetzt pünktlich zum Tag der Arbeit eröffnet.

Der nicht zu leugnende Vorzug des Ganzen ist, dass das kunstkritische Kauderwelsch der Richtungen und Formen - ob Op oder Pop, Fluxus oder Informel, Neue Wilde oder Wiederkehr des Gegenständlichen - nur noch im Kleingedruckten des Katalogs vorkommen muss. Die sachfremde Spielregel der Annalistik zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit barocken Gedichten, bei denen die ersten Buchstaben der Verszeilen ein zusätzliches eigenes Wort bilden oder sich Reime auch von rückwärts lesen lassen. Solche Erschwerungen bringen oft einfallsreiche Höchstleistungen hervor, warum nicht auch hier?

Die Schau glänzt durch Opulenz, den entschlossenen Willen, nichts Wirkmächtiges auszulassen, sie setzt auf den breiten Pinsel, die großen Formate und die knalligen Effekte. Die überragenden Meister wie Gerhard Richter und Anselm Kiefer erhalten eigene Räume mit mehr als nur einem Werk, die monumentalen Fotokünstler Ruff, Struth und Höfer sind auch monumental gezeigt, der breit hingelagerte Jonathan Meese wird breitest hingelagert und mit drei exquisiten Werken Neo Rauchs gekontert. Dass in diesem Zusammenhang Wolfgang Tillmans' Raum über die "Nineties" fast meditativ wirkt, sagt einiges über die Ausstellung; aber die Wahl gerade dieses Werks ist natürlich blendend.

Plötzlich ist da: Staatskunst

Dass ein hochkarätiges Kuratorenteam (darunter Götz Adriani, Dieter Ronte oder Bazon Brock) gewonnen werden konnte, lässt sich vor allem an den überwiegend delikaten Hängungen ablesen. Obwohl der Raum im Erdgeschoss des Gropius-Baus für Größe und Masse der Bilder - insgesamt mehr als 150 - und die dazukommenden Medienräume eher knapp ist, kommt nur selten der Eindruck von Enge auf. Zuweilen fühlt man sich an das große Nachwende-Staatskunstensemble, den Berliner Reichstag, erinnert.

So entstand eine Ausstellung für die ganze Familie, eine Art ästhetischer Kindergeburtstag, dem nicht einmal der große Beuys-Raum (mit "Infiltration homogen für Konzertflügel") viel von dem Vergrübelten gelassen hat, das im internationalen Vergleich wohl die eigentliche Besonderheit der besten deutschen Nachkriegskunst darstellt. Es triumphiert eher der Geist eines Immendorff, zu dem auch Alt-Kanzler Schröder gerne hinging, die bunte Republik Deutschland.

Die Chance staatsferner Kunst, wie sie im Westen durchs Grundgesetz geschützt wurde, ist nicht der direkte Zeitbezug, sondern die unwillkürliche Manifestation des Zeitgeistes. Was ist von solchen Valeurs - etwa der abstrakten Nachkriegsaskese, der Amerikanisierung in den sechziger Jahren, der bleiernen Zeit der Siebziger, dem Untergrund der Achtziger und der Party danach - noch zu spüren? Erstaunlich wenig. Auf geheimnisvolle Weise schafft es diese Ausstellung, die Kunst der Bundesrepublik zu dem zu machen, was sie nie war: Staatskunst. Insofern rächt sich das Weglassen des anderen in der DDR am Ende doch. Aber dafür ist, außer der Reihe und insofern nicht in der Gefahr, am Ende seiner Bahn von Bild gefeatured zu werden, ja auch noch der Plakatkünstler Klaus Staeck vertreten.

60 Jahre - 60 Werke. Im Berliner Martin-Gropius-Bau bis zum 14. Juni. Der im Wienand-Verlag erschienene Katalog kostet 29,80 Euro. Info: www.60jahre-60werke.de.

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