Kunst:Im Schutz hoher Berge

Hans Josephsohn. Existenzielle Plastik (30. März – 24. Juni 2018) im Museum Folkwang

Die Liegende-Skulptur „Ohne Titel“ von Hans Josephsohn entstand 1971.

(Foto: Courtesy Josephsohn Estate, Kesselhaus Josephsohn/Galerie Felix Lehner, Hauser & Wirth)

Der Bildhauer Hans Josephsohn hielt beharrlich an der menschlichen Figur fest. Das Essener Museum Folkwang zeigt nun seine erste Retrospektive.

Von Michael Kohler

Es klingt kitschig, aber die Liebe zur Kunst rettete Hans Josephsohn das Leben. Weil er als Jude nicht an einer deutschen Kunstakademie studieren durfte, ging der 17-jährige Königsberger 1937 nach Florenz, und im folgenden Jahr, nachdem auch in Italien die Rassengesetze verschärft wurden, in die Schweiz. Später erinnerte er sich, dass sein Zug in Italien in einen Tunnel fuhr, auf der anderen Seite eine riesige Schweizer Fahne hing und er "einfach sofort zwischen hohen Bergen geschützt" gewesen sei. Über seine in Deutschland gebliebenen Eltern wusste er nur, dass sie zuletzt im Konzentrationslager Theresienstadt gesehen wurden. Alle weiteren Nachforschungen ließ er sein.

Die abstrakte Avantgarde spielte für den Künstler im Schweizer Exil keine Rolle

Im Grunde ergibt sich aus diesem biografischen Kern das gesamte Werk Hans Josephsohns. Die Bildhauerei, die ihm das Leben rettete, wurde zu seiner eigentlichen Heimat; die brüchige Erinnerung an die menschliche Figur das große, wenn nicht einzige Thema seiner Kunst; und vielleicht konnte sein erst mit jahrzehntelanger Verspätung entdecktes Werk so auch nur im Schutz hoher Berge entstehen. Während andere Bildhauer, die wie er nach 1945 an der menschlichen Form festhielten, vom Kitschverdacht begleitet und ausgezehrt wurden, spielte die abstrakte Avantgarde für Josephsohn im Züricher Exil keine Rolle. Für ihn war der Gegenstand keinesfalls überwunden, die menschliche Figur hörte bis zu seinem Lebensende nicht auf, ihn fragend anzusehen.

Im Essener Museum Folkwang ist jetzt die erste Retrospektive des 2012 gestorbenen Künstlers zu sehen, es ist überhaupt erst die zweite größere Ausstellungen über Josephsohn in Deutschland. Sie beginnt mit den gestreckten Körpern der Fünfzigerjahre, die zwar an die zittrigen Figuren Alberto Giacomettis erinnern, in ihrer extremem Reduktion aber eher Stelen früher Hochkulturen ähneln. Josephsohn nahm damals meist an seiner ersten Ehefrau Maß, deren schlanke Gestalt er in ihrem "Wesen" erfassen wollte. Und so stehen diese Ein- und Zweifüßer heute wie die Idee des Menschlichen vor dem Betrachter. Man erkennt Kopf, Schultern, angelegte Arme und geschlossene Beine - aber keine Regung und keine Persönlichkeit.

Seine späte Berühmtheit verdankt Josephsohn den seit den Achtzigerjahren entstandenen Halbfiguren. Bei flüchtiger Betrachtung könnten diese von der Hüfte aufwärts modulierten Menschen auch einfach grob behauene Klumpen sein, doch sieht man sich rasch in das Äußere dieser Findlinge ein und entdeckt auf ihnen leibliche Züge. Stets liegen die Arme über der Brust verschränkt, Haare wallen auf die Schultern, und im Gesicht schälen sich Augenhöhlen oder ein Mund heraus. Man kann kaum anders, als in diesen Nicht-Figuren Metaphern für das Vergessen zu sehen und für die verzweifelte Anstrengung, ein vertrautes Antlitz aus dem Nichts zu formen. Es ist eine Anstrengung, die Josephsohn nie verloren gab. Im Zweifelsfall gilt bei seinen Skulpturen der Grundsatz: An der Nasenspitze sollt ihr sie erkennen.

Bei aller Gegenständlichkeit kam die Nachahmung der Natur für den Bildhauer nicht infrage

Als der über 80-jährige Josephsohn Anfang der Nullerjahre auch außerhalb der Schweiz entdeckt wurde, ebneten ihm die Halbfiguren den Weg, weil sie sich als halbabstrakte Werke am leichtesten in den Nachkriegskanon einreihen ließen. Die Essener Retrospektive soll daher wohl auch Josephsohns Eingemeindung in die Avantgarde vorbeugen, indem sie zeigt, dass selbst die späten Findlinge dem gegenständlichen Menschenbild verpflichtet sind. Im Ausstellungskatalog leitet Arie Hartog Josephsohns Arbeiten sogar explizit aus dem 1921 erschienenen Rodin-Buch des Bildhauers Carl Burckhardt ab, wobei für den Gerhard-Marcks-Experten Hartog die Pointe dieses Buches gerade darin besteht, dass Burckhardt die Rodin'schen Skulpturen als von allem "Außerbildhauerischen" befreite menschliche Präsenz beschrieb. So wirbt die Folkwang-Schau dafür, die figürliche Skulptur der Nachkriegszeit als Ganzes neu zu sehen oder zumindest vom Generalverdacht des Kitsches zu befreien. Was Hans Josephsohn über die Nachahmung der Natur sagte, gilt gleichermaßen für viele andere Künstler seiner Generation: "Das Schwierigste ist, dass etwas vollkommen natürlich wirkt und dass es die Kraft des Lebens selber hat. Aber das erreicht man nicht, indem man die Natur einfach so nachmacht, wie sie ist."

So wenig das Nachmachen für Hans Josephsohn infrage kam, so wenig wollte er vom natürlichen Vorbild lassen. Vielleicht war nicht die Überwindung der Gegenständlichkeit das Schwierigste, was man nach Auschwitz als Bildhauer meistern konnte. Sondern das Finden einer Form, die den Menschen nicht aufgibt - trotz allem, was geschah.

Hans Josephsohn. Existenzielle Plastik. Museum Folkwang Essen. Bis 24. Juni. Katalog: 25 Euro.

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