Kunst im Bau:Zieht euch warm an!

Ein Zwischennutzungsprojekt in einem Fabrikbau in Neuhausen bietet dreieinhalb Wochen lang Kunst, Performances, Theater, Konzerte und Lesungen

Von Evelyn Vogel

Kein Strom. Kein Licht. Keine Heizung. Und wegen der Feiertage und weil auch noch ein wichtiger Aufbauhelfer krankheitsbedingt ausfiel, hängt man dem ursprünglichen Zeitplan doch beträchtlich hinterher. Aber Christoph Nicolaus ist zuversichtlich, alle Widrigkeiten, die ihn einige Tage vor der Eröffnung noch skeptisch die Stirn runzeln lassen, zu meistern. Die Zuversicht ist nicht ganz unbegründet. Der Organisator der kulturellen Zwischennutzung in der ehemaligen Arzneimittelfabrik in München-Neuhausen hat Erfahrung mit derartigen Projekten. Ob Kunst "im Bunker", "in der Grube", "im Bau 3" und "im Bau 5" oder "Kunstherberge Birkenau" - all diese Projekte hat der 1962 geborene multimedial arbeitende Künstler und Musiker organisiert. Seine Bekanntschaft mit dem Projektentwickler Uwe Binnberg verhilft Nicolaus immer wieder zu Objekten, die er während der Sanierungsphase kulturell zwischennutzen kann.

Nun ist ihm ein weiterer Wurf gelungen. Wieder ein "Kunst im Bau"-Vorhaben, das den vielversprechenden Titel "6 : 9 Weltversprechen" trägt. Was das genau bedeuten soll, will Christoph Nicolaus nicht so recht erläutern. "Die Welt wie auch die Kunst sind doch ein einziges großes Versprechen. Man kann es aber auch im Sinne eines Versprechers verstehen", erklärt er ein wenig kryptisch. Und was die Zahlen angeht - nun ja, nehmen wir mal an, dass die nichts mit der üblichen Konnotation zu tun haben, sondern nur ein Spiel mit der Hausnummer sind, die ebenso auf den Kopf gestellt wird, wie die Fotografie auf der ansonsten sehr informativen Internetseite.

In den dreieinhalb Wochen, in denen die Kultur in die Räume einzieht, findet ein vielfältiges Programm statt. Etwa zwei Dutzend Künstler stellen ihre Gemälde, Zeichnungen, Fotografien, Objekte und Installationen auf mehreren Etagen und Trakten des Gebäudes in der Gabrielenstraße in Neuhausen aus. Mitunter muss man den letzten Winkel im Keller aufsuchen, um alles zu entdecken - beispielsweise die "Klappernden Zähne" von Martin Stiefel. Das macht das Projekt zu einer Tour de Force. Zu den Ausstellungen gibt es täglich Performances, Konzerte oder Lesungen. Daneben werden in eigenen Räumen zwei Videokunst-Programme gezeigt mit nationalen wie internationalen Filmen, die man von dem Fünf-Seen-Festival kennt, von der Reihe "Kino der Kunst" oder Museums- und Galerieausstellungen. Auch die in München nomadisierende und zuletzt aus der öffentlichen Wahrnehmung etwas verschwundene Kulturjurte hat hier ein temporäres Domizil gefunden und lädt täglich zu einem eigenen Programm mit Theater, Performance und Konzerten ein.

Das Gebäude der ehemaligen Arzneimittelfabrik wurde 1955 erbaut, in den Achtzigerjahren saniert und zuletzt von verschiedenen Dienstleistern sowie Kreativen bis hin zu einem Tanzstudio genutzt. Demnächst soll hier überall eine schicke neue Bürowelt entstehen, das zeigt die Website des Projektentwicklers. Inzwischen ist das Fabrikgebäude größtenteils entkernt, was eine der Ursachen für den fehlenden Strom in manchen Trakten ist. Nur auf zwei Etagen sind noch Firmen zugange. Doch der größte Teil der etwa 7000 Quadratmeter steht für die kulturelle Zwischennutzung zur Verfügung.

Um die beiden noch vorhandenen Arbeitsetagen zu überbrücken, wird Olaf Probst das Gebäude und das Treppenhaus mit dem Wort "Aufmerksamkeitskapitalismus" überziehen. Für das Thema hat er vorab schon mal mit einer Kleinanzeige in der Süddeutschen Zeitung geworben. Wörter, Wortinterpretationen und Wortspiele aus verschiedenen Kulturkreisen stehen in der Ausstellung bei einer ganzen Reihe von Künstlern im Mittelpunkt. So will Berkan Karpat in einer großen audio-visuellen Installation die 12. Sure des Koran zum Klingen bringen. Rasha Ragab, in der Kunst wie im Leben Partnerin von Christoph Nicolaus, schafft einen Kubus aus schwarzen Tüchern, auf die mit Goldfäden arabische Schriftzeichen gestickt sind. Es sind Gedichte aus vorislamischer Zeit, wie sie einst an der Kaaba in Mekka hingen. Im Innern des Kubus' läuft ein gemeinschaftlich produziertes Video.

Nicolaus selbst präsentiert sein Langzeitprojekt "Stille Wasser in Unschuld waschen, everywhere in artless springs". Es sind 2100 Polaroid-Aufnahmen von Handwaschbecken, die er als systematische Wandinstallation über zwei offen einsehbare Etagen zwischen zwei Toilettenschächten montiert hat. Michael Lukas nimmt durch minimalistische Eingriffe Strukturen des Gebäudes auf und das Duo Brunner/Ritz mit der Installation "auskehren" aus 100 Kehrbesen das gesamte Projekt gewissermaßen auf die Schippe.

Kunst im Bau: Voller Zuversicht blicken Rasha Ragab und Christoph Nicolaus dem Beginn ihres Zwischennutzungsprojektes in einem alten Fabrikgebäude in Neuhausen entgegen. Alleine an der Ausstellung sind etwa zwei Dutzend Künstler beteiligt.

Voller Zuversicht blicken Rasha Ragab und Christoph Nicolaus dem Beginn ihres Zwischennutzungsprojektes in einem alten Fabrikgebäude in Neuhausen entgegen. Alleine an der Ausstellung sind etwa zwei Dutzend Künstler beteiligt.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Es gibt auch eine Reihe nachdenklich stimmender Arbeiten, so die Video-Projektion "Out of the way" von Michaela Rotsch, die aus ihrem Bagdad-Projekt "Syntopian Vagabond" entstanden ist. Oder die Installation "Best of Paradise" von Roman Wörndl, bei der Vogelhäuschen und das Zwitschern von Vögeln verschiedene Weltreligionen und Ideologien künstlerisch einfangen. Und es gibt auch erschreckende Einsichten wie Kadir Fadhels "Sewing Machine": Während des EM-Fußballspiels Deutschland gegen Italien am 3. Juli 2016, das der Künstler mit Freunden in Bagdad im Fernsehen anschaute, explodierte unmittelbar nach dem Abpfiff und noch in den Jubel der Sieger hinein in einem nahen Shopping-Center eine Bombe und tötete oder verletzte Hunderte Menschen.

Wer all dies und noch einiges mehr gesehen hat, hat das Gebäude dann schon zu einem großen Teil erkundet und bleibt vielleicht noch zu einer der Performances "Das ist alles wahr" von Tomma Galonska. Die ist als theatrale Exkursion in das Textbauwerk "Die Perser" von Aischylos angekündigt. Versprochen werden hier neben erneuten Worten auch wärmende Decken und eine Heizung, die es während der Zwischennutzung nur bedingt geben wird. Weshalb allen warme Kleidung und dicke Schuhe angeraten seien.

Ebenfalls um Worte geht es auf dem Dach der Garage. Dort sollen allabendlich Stefanie Unruhs Leuchten ihre Botschaft blinkend in den Himmel morsen. Alles natürlich unter der Voraussetzung, dass Christoph Nicolaus' Zuversicht von Erfolg gekrönt war. Dann gibt es Strom, Licht und womöglich sogar etwas Heizung.

Anmerkung der Redaktion: Die Eröffnung des Zwischennutzungsprojektes musste abgesagt werden, Die Stadt München hat das Projekt aus Sicherheitsbedenken nicht genehmigt. Mehr dazu lesen Sie hier.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: