Kunst:Harakiri einer Frau

Wie der Bildhauer Auguste Rodin auf die tragischen Darbietungen der Japanerin Hanako reagiert hat, zeigt eine Ausstellung im Georg-Kolbe-Museum in Berlin.

Von Dorion Weickmann

Im Oktober 1911 besuchte der Schriftsteller Erich Mühsam regelmäßig das Kleine Theater in der Münchner Türkenstraße. Grund dafür war Madame Hanako, eine Tänzerin und Aktrice, "deren gleichen es, in Europa mindestens, nicht gibt", wie Mühsam notierte. Mochten die besichtigten Dramolette auch nicht viel taugen, so war "das Japanermädel" darin doch phänomenal: "Wie sie plötzlich von Tränenergüssen geschüttelt wird - ganz abrupt, wie sie das Messer aus dem Kleid zieht, es besieht, abputzt, ansetzt . . . So habe ich noch nie jemand auf der Bühne sterben sehen."

Ob Mühsam, Harry Graf Kessler oder der Regie-Guru Wsewolod Meyerhold, ob München, Berlin, Paris oder Moskau - Madame Hanako machte überall Sensation. Was sie mit einer Handvoll Mitspielern zum Besten gab, steuerte stets auf ein und denselben Höhepunkt zu: die Selbstentleibung der Heldin mittels Harakiri. Ein Ritual, das in Hanakos Heimat Männern vorbehalten war. Weshalb sie sich dort den Vorwurf einhandelte, japanische Traditionen auf dem Geschmacksaltar des Westens zu opfern. Ihre Bewunderer scherte das nicht, am allerwenigsten denjenigen, der sie unsterblich gemacht hat: der Bildhauer Auguste Rodin, dem Hanako zwischen 1907 und 1911 Modell saß. Rund fünfzig Plastiken und Zeichnungen aus Rodins "Hanako-Zyklus" zeigt jetzt, erstmals in Deutschland, das frisch renovierte Georg-Kolbe-Museum in Berlin. Die effektvoll präsentierte Ausstellung wirft nebenbei die Frage auf, ob der Theater-Exotismus, der vor gut hundert Jahren den Wirbel um Hanako anheizte, tatsächlich Vergangenheit ist.

Kunst: Madame Hanako vor ihrem Schminkspiegel - eine Fotografie, die für Verehrer bestimmt war.

Madame Hanako vor ihrem Schminkspiegel - eine Fotografie, die für Verehrer bestimmt war.

(Foto: Georg Kolbe Museum)

Ein Frauengesicht leuchtet im Dämmer der Vitrine: zartrote Lippen, blasses Inkarnat, braune Augen, über denen sich hohe Brauenbögen wölben. Eng am Kopf liegen die Haare an, nur im Nacken hat sich eine Strähne verselbständigt. Wie einbalsamiert scheinen die weiblichen Züge der Ewigkeit zu harren. Nebenan imponiert ein in Schwarz-Weiß fixiertes Röcheln, das der Betrachter zu hören meint. Dabei sieht er nichts als eine qualzerfurchte Stirn, verdrehte Augäpfel, einen Mund, der sich zum Schrei öffnen will und doch nicht kann. Ist dieses gemarterte Geschöpf wirklich dieselbe Frau, die so stoisch hinter Glas ruht wie eine verblichene Fürstin im Schrein?

Exotismus und Erotik mischen sich in den Berichten der Zeitgenossen

Tatsächlich handelt es sich hier wie dort um Hanakos Haupt, einmal als Maske aus Glaspaste mit Farbeinschlüssen, einmal aus Terrakotta geformt und von Edward Steichen so raffiniert fotografiert, dass sich der Eindruck einstellt, den mutmaßlich auch Rodin von seinem Modell empfing: eine sterbende, mit dem Tod ringende Frau. Die Passage vom Diesseits ins Jenseits, die Momente der Abwehr und Auslöschung, bevor das Auge bricht, lässt sich der Bildhauer wieder und wieder von Hanako vorführen, um sie zu materialisieren. Ausgerechnet an der Tänzerin interessiert den Meister und Modernisierer der Körperskulptur nur eins: das Gesicht. Denn dieses Gesicht zur Bühne eines Todestanzes zu machen, das eben ist Hanakos Kunst.

1868 als Ōta Hisa in der japanischen Präfektur Aichi geboren, zieht schon die elfjährige Hanako mit Kabuki-Truppen umher. Als Halbwüchsige wird sie zur Geisha ausgebildet. Sie kann perfekt tanzen und singen, als sie mit gut 30 Jahren nach Europa aufbricht, um beim Varieté ihr Glück zu versuchen. 1905 trifft sie in London auf die Tänzerin Loïe Fuller, die ihre Karriere energisch anschiebt und sie auch mit Rodin bekannt macht. Fullers Protegé etabliert sich rasch als Kassenmagnet und beeindruckt, wie die New York Times festhält, als "kuriose Kreatur, die kaum menschlich für westliche Augen erscheint" und manchmal "wie eine animierte Puppe" wirkt.

Die Irritation der eigenen, westlich geprägten Wahrnehmung ist es, die Presse wie Publikum fasziniert. Exotismus und Erotik mischen sich in den Augenzeugenberichten, die vielfach Klischees enthalten, die heute als rassistisch gebrandmarkt würden. Aber schaut das 21. Jahrhundert anders, aufgeklärter auf Hanakos Bühnennachfahren? Wartet der Performance-Hype unserer Tage überhaupt noch mit "Kirschblüten"-Stereotypen auf?

Die naive und zugleich selbstgefällige Neugier, mit der Theaterbesucher der Jahrhundertwende auf fernimportierte Künstler blickten, mag vergangen sein. Kriege und Katastrophen, Forschung und Globalisierung haben den Blick auf Außereuropäisches verändert. Inzwischen rotieren rekordverdächtig viele Formate aus Asien, Afrika, Südamerika durch den hiesigen Festivalzirkus, darunter durchaus Produktionen, die so unnahbar bleiben wie einst Hanakos Auftritte. Der Maori-Fürst Lemi Ponifasio versteht sich auf solche Inszenierungen mit hochstilisierter Ästhetik und exotischer Aura. Andere zoomen die fremde Kultur heran, bis der Zuschauer sie berühren, ertasten und damit begreifen kann, wie es zu Rodins Zeiten nie und nirgends möglich war. So verfährt die brasilianische Choreografin Lia Rodrigues, deren Protagonisten uns auf den Leib rücken: Auge in Auge, Haut an Haut. Um Stolz und Elend ehemals kolonialisierter Gesellschaften mit denen zu teilen, die Kolonisatoren waren.

Geblieben ist trotz allem die Schaulust, der Zauber des Fremden. Hinzu gekommen vielleicht die Erkenntnis, die Auguste Rodin seinerzeit in Erinnerung an seine Arbeit mit Hanako formulierte: "Schönheit ist überall. Man muss sie nur finden."

Rodin und Madame Hanako im Georg Kolbe Museum Berlin bis zum 18. September. Der von den Kuratorinnen Brygida Ochaim und Julia Wallner herausgegebene Katalog ist bei Wienands erschienen und kostet im Museum 34 Euro.

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