Kunst:Freudenmädchen im Röntgenlicht

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Mit Geduld, Spucke und Naturwissenschaft hat das Museum of Modern Art in New York eines der berühmtesten Gemälde Picassos restauriert.

Von Hubertus Breuer

In einem dämmrigen Lagerhaus in einem New Yorker Industrieviertel steht unter verzinkten Lüftungsrohren ein schmaler, hoher Holzkasten. Er wirkt wie ein ungehobelter Rahmen für eine 243,9 mal 233,7 Zentimeter große, frisch restaurierte Leinwand.

Angestrahlt von einem Scheinwerfer sind darauf fünf kaum verhüllte, kantige Frauen zu sehen. Es ist wohl die berühmteste Bordellszene der Kunstgeschichte - und sie leuchtet, wie sie seit Jahrzehnten niemand mehr hat leuchten sehen.

"Ja...", kommt es Christopher McGlinchey verlegen über die Lippen, so, als wäre selbst dieses eine Wort zu viel angesichts der Pracht. Der Chemiker ist Mitarbeiter des New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) und hatte entscheidenden Anteil an der Restaurierung des Gemäldes.

"Les Demoiselles d'Avignon" stammt von Pablo Picasso, der es 1907 gemalt hat. Es ist eines der berühmtesten Gemälde moderner Kunst und markiert die Geburt des Kubismus. Ein Jahr hat die Arbeit an dem Bild gedauert, und zehn Jahre die Forschung darüber.

Im November, wenn das MoMA aus seinem Notquartier in Queens zurück in den erweiterten Neubau in der 53. Straße in Manhattan zieht, wird Picassos Bild wieder dem Publikum gezeigt.

McGlinchey ist der Naturwissenschaftler am MoMA. Wo Restauratoren nicht weiter wissen, geht er ihnen zur Hand - denn kostbare Werke stellen Konservierungskünstler vor Herausforderungen, die gründliche Forschungsarbeit erfordern.

Deshalb beschäftigen Kunststätten wie der Pariser Louvre, das Getty-Museum in Los Angeles oder die Münchner Pinakotheken Chemiker, mitunter auch Biologen und Physiker, die mit detektivischem Gespür und feinsten Analysegeräten das Kulturerbe der Menschheit untersuchen.

Moderne Kunst stellt die Forscher vor besondere Herausforderungen: "Künstler arbeiten oft mit neuen Materialien, für die erst geeignete Konservierungsmethoden gefunden werden müssen", erklärt McGlinchey.

So wissen Konservatoren bei vielen synthetischen Farben noch nicht, wie sie altern. Zu manchem multimedialen Oeuvre gehören Fernseher und Radios, die, einmal defekt, gewitzte Elektrotechniker erfordern. Und einige Künstler experimentierten gar, wie der 1998 verstorbene Dieter Roth, mit Schokolade, Schimmel und Gammel, was Museen an den teuren Kunstwerken schier verzweifeln lässt.

"Les Demoiselles d'Avignon" bereitete MoMAs Experten allerdings nicht wegen seines Zustands Sorgen - es ist ein klassisches Ölgemälde ohne größere Schäden, gemalt mit hochwertigen Farben. Doch als Chefkonservator James Coddington das Gemälde 1993 neben Matisse-Bildern betrachtete, wirkte es matt und leblos.

Gründliches Peeling

"Wir tippten darauf, dass es nicht an Picasso läge", scherzt Coddington. Analysen in den folgenden Jahren zeigten, dass die seit der letzten Reinigung akkumulierte Staubschicht, ein Anfang der fünfziger Jahre aufgetragener Firnis und Wachsreste diverser anderer Eingriffe den Eindruck trübten. Der berühmte Patient war nicht krank, benötigte aber ein gründliches Peeling.

Picassos bizarre Freudenmädchen gehören zu den meist-studierten Gemälden der Welt. Seit 1950 wurde das Bild dreimal geröntgt. Doch McGlinchey, Coddington und der Konservator Michael Duffy rückten dem Meisterwerk noch einmal mit ihrem ganzen Instrumentarium zu Leibe.

So regten sie bei der Röntgenfluoreszenzanalyse winzige Proben mithilfe energiereicher Strahlung an. Die anorganischen Bestandteile sandten daraufhin ein Spektrum aus, das Picassos Farben charakterisierte.

Der Meister tauchte den Pinsel in Bleiweiß, Blutorange, Kobaltblau, Smaragdgrün und Kadmiumgelb. Mit dem Mikroskop untersuchte McGlinchey Risse, entstanden durch ständiges Auf- und Entrollen der Leinwand in Picassos Atelier. Die Farbschichten bestätigten ihm, "dass Picasso beim Malen eine monatelange Pause gemacht hat".

Ein Infrarotspektroskop schließlich identifizierte den Firnis, der das Gemälde seit 1953 überdeckte, sowie Wachsreste und Klebstoffspuren.

Wachs statt Tomatensuppe

Die störenden Veränderungen des Bildes gingen zurück auf den einzigen Privatbesitzer des Gemäldes, einen Pariser Modeschneider, der das Bild 1924 erwarb, und auf Eingriffe am MoMA, wo das Gemälde seit 1939 hing.

Nach der Diagnose machte sich Duffy daran, die Staubschicht zu entfernen. "Das geht am besten mit Spucke - eine altbewährte Methode", erzählt er trocken. Den Firnis dagegen entfernte er mit einer organischen Lösung.

Quadratzentimeter für Quadratzentimeter tupfte er mit einem Wattestäbchen ab; die Reinigung dauerte Monate. Reste von Hasenleim und Wachsharz, die Konservatoren Anfang der 60er-Jahre in die Rückseite der Leinwand gebügelt hatten und die vorne an einigen Stellen ausgetreten waren, weichte Duffy auf, ehe er sie mechanisch entfernte.

Zuletzt beseitigte er großzügig aufgetragene Retuschen früherer Restauratoren, ehe er sie dezent ergänzte: "Solche Eingriffe müssen reversibel sein. Die Farben, die ich verwende, sind löslich."

"Eine klassische Restaurierung ohne böse Überraschungen", sagt McGlinchey zu dem fertigen Gemälde. Und dann erzählt er von den harten Fällen: "Was macht man etwa mit einer ,Campbells'-Suppendose aus dem Supermarkt, signiert von Andy Warhol?", fragt der Chemiker.

Die per Namenszug zum Kunstwerk avancierten Büchsen bringen heute mehr als 1000 Euro. Nur drohen einige zu explodieren, da die Suppe mit dem Metall reagiert. "Offenbar ist die innere Beschichtung der Dosen beschädigt", sagt McGlinchey. "Wie man ein solches Objekt restauriert, hängt davon ab, ob man die Suppe erhalten will."

So könne, sagt der Chemiker, ein Papierkonservator zuerst das Etikett entfernen, ein anderer die Dose entlang der Naht öffnen, die Suppe zwischenlagern und das Metall innen neu beschichten.

Dann würde man der Suppe Konservierungsstoffe zufügen und den Sauerstoffgehalt senken, damit sie chemisch stabil bleibt. Ein viel einfacherer Weg liegt darin, den Behälter anzubohren, die Suppe zu entsorgen und die Dose mit Wachs zu füllen. "Welche Lösung wir auch wählen würden, es muss in Absprache mit den Kuratoren geschehen."

Und der Warhol-Stiftung, sonst könnte das Werk nach dem Eingriff als nicht authentisch gelten. In der Tat gab die Institution kürzlich der Wachsbehandlung ihren Segen.

McGlinchey und seine Kollegen an anderen Kunstmuseen konzentrieren sich aber nicht nur auf die Restaurierung. Sie versuchen auch, Schäden an Kunstwerken zu verhindern, in dem sie das Raumklima regulieren: Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsschwankungen, Lichteinfall und Schadstoffe, die durch Drehtüren und Fenster ins Gebäude dringen.

Deshalb hat McGlinchey den Neubau des MoMA bereits detailliert vermessen. Ein Restrisiko bleibt. Aus der Innenstadt dringen anorganische Gase wie Schwefeldioxid ins Museum, und stoßen auf ein Schadstoffgemenge, das aus Lacken, Bespannungen und Beschichtungen ausdampft.

"Mit einem raffinierten Belüftungssystem, vorgeschriebenen Lichtintensitäten und Schutzzonen für empfindliche Werke", so McGlinchey, "versuchen wir, dem Problem vorzubeugen."

Jede Reise hinterlässt Spuren

Forscher haben sich zudem intensiv mit dem Transport von Kunstwerken beschäftigt. Für die sichere Beförderung braucht es klimatisierte Transportkisten, ausgestattet mit speziellen Stoßdämpfern, die im luftgefederten und vollklimatisierten Laster auf die Straße gehen.

Doch die Maßnahmen helfen nicht immer. Mitunter bildet sich unter Folien Kondenswasser; Plastikhüllen laden sich elektrisch auf, sodass sich die Farbe von der Bildfläche löst.

Andreas Burmester, Direktor des Doerner-Instituts an der Neuen Pinakothek in München, hat über Jahre hinweg Software entwickelt, die es mithilfe hochauflösender Kameras erlaubt, kleinste Veränderungen auf der Bildoberfläche nach dem Transport zu vermessen.

"Jede Reise verändert ein Werk", sagt er. "Die Risse werden größer, Farbspitzen splittern ab. Gerade moderne Bilder, deren Maltechnik oft weniger solide ist, leiden darunter."

In Zukunft werden Konservatoren sogar verfolgen können, wie sich Farbnuancen eines Bildes ändern. Roy Berns am Rochester Institute of Technology arbeitet gemeinsam Coddington vom MoMA und der National Gallery in Washington an einer Technik, die Farben exakt vermisst.

Die Apparatur zeichnet die Intensität der sichtbaren Wellenlängen auf. Selbst wenn aus der Frühzeit der "Demoiselles" keine solchen Daten vorliegen - McGlinchey ist überzeugt, dass das Gemälde jetzt fast so strahlt wie einst in Picassos Atelier. "Wir haben es so oft in Büchern und auf Postern gesehen", sinniert der zuständige Kurator John Elderfield, "dass es uns meist an diese Reproduktionen erinnert. Aber was wir jetzt erblicken, sehen wir zum ersten Mal."

© SZ vom 26.8.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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