Kunst:Ein Museum, wie es in Deutschland fehlt

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"Queer British Art 1861-1967": Ausstellung im Tate Britain vom 5. April bis 1. Oktober 2017 - David Hockneys "Life Painting for a Diploma", 1962 (Foto: Yageo Foundation)

Das englische Wort "queer" existiert im Deutschen nicht. Und auch kein Museum, das dieses Wort selbstverständlich nutzt. Eine sensationelle Londoner Ausstellung zeigt, wie schade das ist.

Von Jan Kedves

Diese Ausstellung ist eine Sensation. Gerade weil sie nicht sensationalistisch ist, obwohl sie dies schnell hätte werden können. Man kann über ihre Feier der polyamourösen Konstellationen der Bloomsbury Group, ihren sich rekelnden Jüngling von Frederic Leighton oder die gezeigte Zellentür, hinter der Oscar Wilde einst eingesperrt war, allerdings im Deutschen nicht schreiben, ohne den Begriff "queer" zu preisen. Hierzulande ist er ja leider unbeliebt. Weil manche meinen, dass Anglizismen die deutsche Sprache verschandeln. Oder weil sie, wenn sie das Wort hören, an linksalternative Aktivist_innen mit bunten Haaren denken, deren Kritik am bourgeoisen Konzept der Ehe oder deren Forderung nach der Post-Gender-Gesellschaft sie möglicherweise unmöglich finden. Die Begriffe "schwul" und "lesbisch" hatte man im Mainstream derjenigen, die sich als normal begreifen, ja irgendwann, widerwillig vielleicht, noch geschluckt. Aber "queer"? Reicht's nicht irgendwann mal?

Noch bis 1861 stand in England und Wales auf schwulen Sex die Todesstrafe

Nein, es reicht eben nicht, allein deswegen, weil nicht alle, die sexuell oder geschlechtlich anders denken und fühlen, schwul oder lesbisch sind. Ein Lösungsversuch war, auch im Deutschen das Kürzel LGBT zu übernehmen (lesbisch, schwul, bisexuell, Transgender), und ihm wurden nach und nach noch weitere Identitäten angehängt: "Q" für "questioning", im Sinne von: sexuelle Kategorien grundsätzlich hinterfragend, "I" für "intersexuell", "A" für "asexuell", und so weiter. Wobei man wohl sagen kann, dass das so zusammenaddierte Buchstabenmonstrum nicht unbedingt leicht von der Zunge geht. Wie schön, und wie praktisch, ist da der Sammelbegriff "queer". In ihm dürfen sich alle heimisch fühlen, die nicht exklusiv auf das jeweils andere Geschlecht stehen oder die ihr zugewiesenes Geschlecht als unpassend für sich empfinden. Es gibt im Deutschen kein vergleichbares Wort. Es fehlt.

Womit wir also bei dieser Ausstellung in London wären: "Queer British Art 1861 - 1967". Gezeigt wird sie in der Tate Britain, jener altehrwürdigen Institution, deren Aufgabe es ist, der Ort für die nationale künstlerische Selbstvergewisserung zu sein. Dass genau hier das Queere in all seinen Facetten und künstlerischen Ausprägungen gefeiert wird, ist grundsätzlich erfreulich, schon vor dem Hintergrund, dass - nur mal so zum Vergleich - in tschetschenischen Lagern schwule Männer zu Tode gefoltert werden. Und Wolfgang Schäuble verteidigt mit Verweis auf "biblische Zeiten" die Exklusivität der Mann-Frau-Ehe. Die britische Presse bejubelt die Ausstellung, auch deswegen, weil ihr Anlass ein feierlicher ist. Vor 50 Jahren, im Juli 1967, wurden in England und Wales homosexuelle Handlungen zwischen Männern über 21 Jahre entkriminalisiert. Bis 1861 hatte in England und Wales noch die Todesstrafe auf "buggery", "Sodomie", gestanden. Sex zwischen Frauen war in England nie strafbar, was freilich nicht bedeutet, dass er nicht Anlass zu Ausgrenzung gegeben hätte.

Kunst
:"Queer British Art 1861 - 1967"

Die Ausstellung in London ist eine der besonderen Art. Eine Bildauswahl.

"Queer British Art 1861 - 1967" ist keine Ausstellung, die Wissenschaftsgeschichte und Politik in den Vordergrund stellt, so wie vor zwei Jahren die "Homosexualität_en"-Schau im Deutschen Historischen Museum und im Schwulen Museum in Berlin. Sondern sie fragt danach, wie in dieser Zeitspanne von 106 Jahren - in dieser Latenzphase der queeren Identitätsfindung -' Künstler und Künstlerinnen in England gleichgeschlechtliche Sensibilitäten in ihre Arbeit brachten. Was sofort die Frage aufwirft: Können nur queere Künstlerinnen und Künstler Kunst mit queerem Inhalt machen? Die Ausstellung verneint diese Frage, was sehr richtig ist. Allein schon deswegen, weil die Exponate ja weit in die Zeit vor unseren heutigen Begriffen zurückreichen und man die meisten der repräsentierten Künstlerinnen und Künstler nicht mehr fragen kann, wie sie sich definiert hätten.

Als der späte Neoklassizist Frederic Leighton 1885 seine im Zentrum des ersten Raums platzierte Aktbronze "The Sluggard" schuf - zu Deutsch: der Faulenzer -, gab es das Wort "homosexuell" noch nicht, so wie im Übrigen auch noch nicht den ebenfalls sehr neuzeitlichen Begriff "heterosexuell". Was es in England etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab, war das Wörtchen "queer": wunderlich, seltsam. Damals war das noch ein Schimpfwort. Was man über Leighton weiß: Er war unverheiratet und wohl kinderlos. Was zu der Frage führen mag, ob er ein "queer fellow" war, und wenn: inwiefern er seine Libido in den gähnenden Faulenzer, der seine makellose Nacktheit hier so aufreizend gen Morgensonne reckt, mit hineingoss. Das Kuratorenteam vermeidet Spekulationen, es stellt im Begleittext lediglich fest: Es ist auffällig, dass Leighton "The Sluggard" gerade zu jener Zeit schuf, als man in der Kunstgeschichte begann, sich für die Homoerotik im Werk des verehrten Michelangelo zu interessieren, dessen David Vorbild für Aktskulpturen dieser Art war.

Das kann man nun unbefriedigend oder gar unlauter finden. Wobei die Argumentation der Kuratoren durchaus verfängt - dass nämlich, sobald über die geschlechtliche Orientierung von Künstlern oder Künstlerinnen wenig bis nichts bekannt ist, mögliche oder gar naheliegende queere Lesarten ihrer Werke meist verschwiegen werden. Aus Angst, sie in ein falsches Licht zu rücken. Womit dann häufiger als nötig heteronormative Narrationen festgeschrieben werden.

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Und so wandert man dann durch die Tate Britain und bleibt vielleicht besonders vor jenen Werken stehen, denen homoerotische Sehnsüchte sehr subtil einkodiert scheinen. Ethel Sands (1873 - 1962) malte opulente Interieurs in Öl, eines mit leerem Chintz-Sofa. Ein Sonnenstrahl trifft es genau an jener Stelle, wo eine Person, die möglicherweise nicht gezeigt werden durfte, auffällig abwesend ist. Henry Scott Tuke (1858 - 1929) fing Pleinair-Szenen am Strand in Cornwall ein. Hübsche Jünglinge schwimmen oder liegen im Sand, teils nackt, teils bekleidet, sie werfen sich Blicke zu. Anzügliche, musternde Blicke? Der Titel, augenzwinkernd: "The Critics".

All-gender toilets gibt es jetzt auch in der Tate Britain

Einen Raum weiter gibt es Gluck (1895 - 1978) zu sehen: das Gemälde eines wunderbar arrangierten Fliederstraußes. Geboren als Hannah Gluckstein, legte Gluck Namen und weibliche Identität ab und wollte nur noch geschlechtsneutral adressiert werden - wofür es, wie die Wandtafel beweist, im Englischen durchaus eine Möglichkeit gibt: das "singular they", das Personalpronomen in der belebten dritten Person. Es ist laut Fowler's Dictionary of Modern English Usage seit dem 14. Jahrhundert in Gebrauch. Anders im Deutschen, wo man sich bei solchen Gelegenheiten immer noch um das so gar nicht passende "es" winden muss.

Dazwischen dann, fahlgelb und dick, die Original-Zellentür, hinter der Oscar Wilde von 1895 - 97 im Gefängnis Reading seine Strafe für "gross indecency", grob unsittliches Verhalten, absaß. Und noch etwas weiter, in einer Vitrine, wird die pinkfarbene Perücke des in den Dreißigerjahren scheinbar sehr populären englischen Damen-Imitators Jimmy Slater präsentiert. Es ist nicht verstiegen zu behaupten, dass in der Ausstellung insgesamt der Kunstbegriff ein wenig verqueert wird, in dem Sinne, dass hier Malerei und Skulptur mit sonst eher nicht so musealen Künsten wie Revue und Drag-Show zusammengebracht werden. Alles kann, nichts muss.

Der letzte Raum leitet mit Leinwänden von Francis Bacon und David Hockney in die Gegenwart über. Ein paar Meter weiter, im Gang zwischen den Damen- und Herrentoiletten, finden sich "All-gender toilets", die pünktlich zur Ausstellung installiert wurden. Wie hysterisch wurde über solche stillen Örtchen zuletzt in den USA und in Deutschland gestritten. Wie selbstverständlich kann man sie hier benutzen. Sie werden bleiben. So wie das Queere in der Kunst.

Q ueer British Art 1861 - 1967 , bis 1. Oktober in der Tate Britain in London, Info: www.tate.org.uk

© SZ vom 22.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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