Kulturschätze:Lehm und Tod am Tigris

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Das Irak-Museum in Bagdad, eine Schatzkammer der Antike, im Krieg geplündert, dann zehn Jahre geschlossen, ist wieder geöffnet - eine Ortsbegehung.

Von Sonja Zekri

Reiche entstehen. Reiche vergehen. So war es. So bleibt es. So tröstet uns die Zeit.

Der Himmel über Bagdad ist gelb vor Sand und Regen, die heiße Luft so gut wie sauerstofffrei. Und Lamia al-Gailani muss sich gerade mal wieder ärgern. Das Irak-Museum, Schatzkammer der Antike, Gedächtnis der Menschheit, architektonische Pioniertat, mehr als zehn Jahre geschlossen, seit ein paar Wochen wieder geöffnet - ist völlig verhunzt.

Oder wie soll man diese Scheußlichkeit am Eingang sonst nennen? Ein berühmter Deutscher, Werner March, Architekt des Berliner Olympia-Stadions, hatte in den Fünfzigern den Bau für Bagdad entworfen. Es war das erste Gebäude im Irak, das ausschließlich einem Museum gewidmet war, sagt al-Gailani. March verschmolz Art Deco und deutsche Moderne, assyrische Fensterschlitze und islamische Innenhöfe. Und jetzt das: Vor den Eingang zu Marchs Bau schiebt sich ein protzig hingeklotzter Pavillon mit eckigen rosenkohlfarbenen Säulen. "Die Iraker sagen, die Säulen seien islamisch", giftet Al-Gailani. Die Iraker und ihre Geschichte - manchmal ist das ein Thema zum Haareraufen.

Der Vizeminister findet es richtig, Kulturschätze militärisch zu schützen. Wie denn sonst?

Die Archäologin Lamia al-Gailani Werr ist im Irak geboren, hat in Bagdad studiert, aber dann auch in Cambridge, sie forscht in London, am Archäologischen Institut des University College und am Nahost-Institut der Universität, und pendelt seit Jahrzehnten zwischen zwei Welten. Kaum jemand kennt das Irak-Museum so gut wie sie. Al-Gailani - klein, gebeugt, um die siebzig und unerbittlich - verkörpert eine Generation irakischer Wissenschaftler, die sich noch international bilden und weltweit forschen konnten, vor Saddam, vor dem Embargo, vor den Amerikanern, vor dem Krieg und dem Aufstieg der Religiösen. Und lange vor dem IS.

Inzwischen ist die Terrortruppe des Islamischen Staates ins syrische Palmyra eingefallen, und wenn es schlecht läuft, ereilt die Ruinenstadt dasselbe Schicksal wie Iraks antike Stätten. Als Dr. Lamia die Videos von den Zerstörungen in Mossul, in Nimrud und Hatra sah, brach ihr fast das Herz. Die abbassidischen Schreine in Mossul, einer der ältesten Städte Iraks - zerstört. Die dortige Moschee am Grabmal des Propheten Jonas - gesprengt. Und dann hatte der Gouverneur von Mossul auch noch behauptet, die meisten der zertrümmerten Statuen im Museum seien Repliken gewesen!

"Sieben der Statuen waren Kopien", sagt Dr. Lamia: "Sieben. Von 59. Der Rest waren Originale, manche mit Gips restauriert. Aber Originale."

Qais Hussein Rashid, Vizeminister im Ministerium für Antiken und Tourismus, ist groß und elegant, aber neben Dr. Lamia sieht er aus wie ein Student. Er residiert im Anbau des Museums und ergänzt ihren Bericht um ein paar weitere schlechte Nachrichten: Die Terroristen haben alle Statuen um den Tempelbezirk von Hatra zerstört, der IS kontrolliere heute "1700 archäologische Stätten", plündere und schmuggele Objekte aus dem Land: "Wir wissen, dass unsere Antiquitäten auf dem schwarzen Markt gelandet sind, sogar in Auktionshäusern", sagt er. Woher? "Wir haben mit Interpol zusammengearbeitet und assyrische Objekte gefunden. Die gibt es nur im Norden. Und den beherrscht Isis." Ja, er finde es richtig, Kulturgüter auch militärisch zu schützen, wie denn sonst? Und nein, er werde nicht sagen, welcher Ort im Irak als nächstes unter die Räder der Bulldozer kommen könnte: "Nach Mossul und Nimrud habe ich davor gewarnt, dass Hatra gefährdet ist. Kurz darauf fiel der Islamische Staat genau dort ein. Von mir hören Sie keinen Namen mehr."

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(Foto: Sabah Arar/AFP)

Man erkennt den Bizeps der Kämpfer, die Haare der Pferde: Ausschnitt aus einem Relief in einer der assyrischen Hallen des irakischen Nationalmuseums.

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(Foto: Karim Kadim/AP)

Diese Hallen gehören zu den Juwelen des Hauses. Hier stehen auch die "Lamassu", monumentale geflügelte Wächterfiguren.

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(Foto: Ahmad Al-Rubaye/AFP)

Über zehn Jahre war das Museum geschlossen. Neun der nun zugänglichen Hallen haben die Amerikaner finanziert, drei die Italiener, den Rest der Irak.

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(Foto: Sabah Arar/AFP)

Fundstücke aus der Gegend um Mossul, wo der Islamische Staat die berühmten Statuen des abbasidischen Dichters Abu Tammam zerstört hat.

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(Foto: Ahmad Al-Rubaye/AFP)

Das Interesse an der eigenen Geschichte ist im Irak ein neues Phänomen. Lange galt als rühmenswert einzig das islamische Erbe.

Das Furchtbare am Irak ist ja nicht das, was er heute ist, sondern was er sein könnte. Die arabische Halbinsel südlich des Irak ist kulturelles Entwicklungsland, war es immer: Sand, Kamele, Stämme, Öl. Im Norden aber, im Gebiet des heutigen Iraks, Syriens und Libanons, von Euphrat und Tigris bis zur Küste, lagerte sich Reich um Reich ab, Kultur um Kultur, Sumer, Akkad, Babylon, Assur, Hatra, und das sind nur die wichtigsten. Einige bestanden wenige Hunderte Jahre, andere ein Jahrtausend, jede war einzigartig und doch mit allen anderen verbunden. Wäre der Islam nicht in der mörderischen Ödnis der heutigen Golfstaaten, sondern in diesem blühenden Paradies zwischen Mesopotamien und Mittelmeer entstanden, wer weiß, wie die letzten 1600 Jahre verlaufen wären. Von dieser kulturellen Pracht könnte Irak erzählen, davon müsste er erzählen, stattdessen ist das Land zum Symbol für den Verlust der Menschheitsgeschichte geworden - und das Museum in Bagdad eine Arche in einem Meer der Zerstörung.

Dr. Lamia hat die neue Sicherheitsschleuse hinter sich gebracht, den neuen Giftshop ignoriert und streift nun durch die Hallen. Alles hier ist ihr vertraut: die Obsidian-Klingen, die die Menschen vor Zehntausenden Jahren aus der Türkei ins Zweistromland brachten, "eine phantastische logistische Leistung!" Oder die Figur eines Sitzenden aus derselben Zeit, ein Beispiel früher, atemberaubend vertrauter Abstraktion. Und natürlich eine Vitrine, die Dr. Lamias eigene Funde zeigt - eine Bronzeschmiede, Jahrtausende alt, komplett mit Esse und Meißel, eine Rarität im Nahen Osten. Dieses Museum ist ihr Zuhause, aber es ist auch die Heimat der Menschheit. "Das Wunderbare am Irak ist, dass Sie sämtliche Schritte der Zivilisation ablesen können", sagt sie, "man erkennt manchmal an einem einzigen Ort die Entwicklung von der Höhle über Dörfer bis zur Stadt, vom Kultort bis zur riesigen Tempelanlage." Iraks Reichtum aber ist zugleich Iraks Bürde: nämlich Lehm. "Die Menschen haben alles aus Lehm geschaffen, sie haben mit Lehm gebaut und in Lehm geschrieben", sagt Al-Gailani. Dem Lehm verdankt die Forschung Millionen von Keilschrifttafeln, aber nur wenige erhaltene Bauwerke: Die Lehmziegel verfielen, nur die steinernen Reliefs blieben übrig. "Wer Iraks antike Stätten besucht, braucht viel Phantasie."

Drei Kriege haben den Archäologen drei verschiedene Katastrophen gebracht.

Aber es gibt ja das Museum und darin, zum Beispiel, die Vase aus Warka, dem heutigen Uruk, einer kargen zugigen Ebene, wo die Sumerer einst die erste bekannte Stadt der Welt gründeten: ein schlankes, über ein Meter hohes Alabastergefäß, mit einem Relief, das von unten nach oben erstmals eine vollständige Erzählung, den Zyklus des Zusammenlebens von Menschen und Göttern zeigt, vom Säen über das Ernten bis zur Prozession nackter Priester, die Innana, der Göttin des Krieges und der Liebe, ihre Gaben darboten. Im Zweistromland herrschte religiöse Vielfalt: Alle Reiche pflegten ihren eigenen Glauben, aber manche Götter wurden von verschiedenen Völkern verehrt, die sumerische Inanna beispielsweise war die akkadische Ischtar. Das bunte Nebeneinander, ein Charakteristikum des Irak, überlebte Jahrtausende. Nur heute könnte es enden.

Dr. Lamia hat, berufsbedingt, eine andere, langfristige Perspektive. Das ewige Entstehen und Vergehen ist Mesopotamien ja nicht fremd, auch nicht die demonstrative Gewalt. "Hamurabi hat einen guten Ruf, aber er hat jede Stadt verwüstet, die er eingenommen hat", sagt sie. Auch Assurs Könige schlugen Schneisen der Verwüstung durch die Region, wenn die kleinen levantinischen Völker die Weltmacht zu sehr reizten. Eine berühmte Darstellung zeigt den assyrischen König Aschurbanipal beim Musikhören, während der Kopf seines Feindes von einem Ast am Baum hängt. Manche Horrorbilder waren übertrieben, psychologische Kriegsführung, um die Gegner zu beeindrucken. Aber nicht alle.

"Für Archäologen werden die Statuen irgendwann echte Freunde. Da entstehen Beziehungen", sagt die Wissenschaftlerin Lamia al-Gailani Werr. (Foto: Rex Features Ltd)

Die assyrischen Hallen sind die prächtigsten des Museums, die monumentalen geflügelten Wächterfiguren, die "Lamassu", und die riesigen Reliefs von Prozessionen, so fein, dass der Bizeps der Bogenschützen zu sehen ist, das Doppelkinn der Diplomaten, jedes Haar im Schweif der Pferde.

Mehr als zehn Jahre lang war all das ein Vergnügen für wenige Privilegierte, für die Öffentlichkeit unzugänglich. Erst fehlte Geld, dann herrschte Krieg. Neun der nun zugänglichen Hallen haben die Amerikaner finanziert, drei Italien, den Rest der Irak. Der assyrische Bereich bekam prächtige Beschriftungen und überhaupt eine schöne neue Präsentation. In den übrigen Räumen stehen neue Vitrinen, ansonsten erinnert das neue Museum sehr an das alte. Schaukasten auf Schaukasten mit Geschirr, Tafeln, Elfenbein.

Das Interesse an der eigenen Geschichte ist im Irak ein neues Phänomen. Lange galt als rühmenswert einzig das islamische Erbe. Europa bezog seine Kenntnisse über Babylon - nicht ganz objektiv - vor allem aus der Bibel. Im Koran wurde es selten erwähnt. Und als Saddam Hussein das antike Erbe an sich riss, sich mal mit Hamurabi, mal mit Nebukadnezar verglich, war die ganze Disziplin diskreditiert.

Die Neueröffnung des Museums wäre eine Chance für einen frischen Start gewesen, aber Direktor Ahmed Kamel Mohammed weiß, dass dies nun nicht der große Wurf war: "Wir zeigen 9000 Stücke. Das ist zu viel. Aber nach den Plünderungen waren unsere Mitarbeiter traumatisiert und haben allen Mut verloren."

Damals, 2003, als nach dem Einmarsch der Amerikaner der plündernde Mob einfiel und die US-Armee sich für den Schutz des Ölministeriums, aber nicht für den Schutz des Museums zuständig fühlte, verschwanden 15 200 Objekte. Manches ging zu Bruch, manches konnten die Mitarbeiter in Sicherheit bringen, manches lagerte ohnehin in der Nationalbank, wie der Goldschatz. Aber vieles wurde auch gestohlen wie die Dame von Warka, die strahlend weiße überraschend naturalistische Darstellung eines Frauenkopfs, oder die berühmte sumerische Leier, deren Stierkopf nicht ganz glücklich restauriert wurde. 4300 Exponate konnten zurückgebracht werden. Aber das ist nur die materielle Seite, sagt Dr. Lamia: "Für Archäologen werden die Statuen irgendwann echte Freunde. Man beschäftigt sich so lange mit ihnen. Da entstehen Beziehungen." Umso größer der Schock.

Es war ja nicht der erste. 1991, die Schiiten erhoben sich gegen Saddam Hussein, waren die Museen in der Provinz geplündert worden, in Basra, Kirkuk, Misan. Danach hatten die Archäologen alle transportablen Objekte zur Sicherheit nach Bagdad gebracht. 2003 aber wurde auch das Museum hier geplündert. Und als der IS schließlich auch noch über die antiken Stätten herfiel, war auch dem Letzten klar - Kulturgüter sind im Irak nirgends sicher. Dr. Lamia bitter: "Drei Kriege haben drei verschiedene Katastrophen gebracht." Ginge es nach ihr, würde man sich auf das Unvermeidliche vorbereiten und alle Exponate digitalisieren oder dreidimensional fotografieren. Es wäre die Kapitulation, aber auch logisch: "Mehr kann man nicht tun. Es gibt keinen Schutz."

Der Himmel über Bagdad ist gelb bis grün. Dann entlädt sich das Gewitter. Regen - eine Sensation um diese Jahreszeit. In früheren Zeiten wäre dies wohl als Zeichen gesehen worden.

© SZ vom 30.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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