Kulturreport:Ein Dorf spielt mit

30 Jahre Kieferer Puppentheater: In Dorle Denggs Stücken treten historische, aber auch real existierende Figuren auf

Von Barbara Hordych, Kiefersfelden

Vergangenheit und Gegenwart führen eine eigenwillige, aber friedliche Koexistenz in Dorle Denggs Kieferer Puppentheater: Das Personal ihrer Stücke ist historisch, etwa wenn es um den "Märchenkönig" Ludwig II. oder den "Kasperlgraf" Franz von Pocci geht; oder es orientiert sich an Inntal-Legenden, so bei ihren Stücken zu den Kiefersfeldener Ritterspielen, zum alpenländischen Fabelwesen "Tatzelwurm" oder zu Oberaudorfs Einsiedler und dem "Weber an der Wand". Aber auch die großen Ausstellungen im Lokschuppen in Rosenheim, beispielsweise zu Dinosauriern, Römern, Kelten und Peruanern, greift sie in ihren Werken auf. Die werden dann von den Kindergärten und Grundschulen im Umkreis von 100 Kilometern besonders gerne besucht - und mit einer anschließenden Bastelstunde kombiniert.

Für die hat die Gründerin, Theaterleiterin, Autorin und Spielerin Dorle Dengg in ihrem 60-Quadratmeter-Häuschen extra Ausklapptische einbauen lassen. Dass ihre mittlerweile 70 Stücke aus dreißig Jahren Puppentheater-Geschichte auch nachgespielt werden können, dafür sorgen Bücher und DVDs aus dem Eigenverlag. Ein Engagement, das der 68-jährigen im November den Pocci-Preis einbrachte. Für das sie aber auch schon mehrmals vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus ausgezeichnet wurde. Das stufte ihre Werke als "pädagogisch äußerst wertvoll" ein, besonders geeignet für die Spracharbeit und das Schulspiel.

Das Werk der Pocci-Preisträgerin gilt als "pädagogisch äußerst wertvoll" für die Spracharbeit

Das wirklich Einzigartige aber an Dorle Denggs idyllisch in der Nähe zur österreichischen Grenze gelegenem Theater sind die Darsteller, die sie aus dem 6000-Einwohner-Dorf selbst rekrutiert. So braust in ihrem aktuellen Stück "Ein Kasperl unterm Christbaum" ein Pater in brauner Kutte auf einem roten Motorrad über die Drehbühne. Den kennt im Dorf jedes Kind. Entsprechend groß ist denn auch das Jauchzen an diesem Nikolausnachmittag, als erst das Fahrgeräusch und kurz darauf der Biker selbst zum Vorschein kommen. Lautstark wird er von dem begeisterten Publikum in dem dicht besetzten Häuschen als "Pater Matthäus" identifiziert. Der kommt aus Polen, da kennt man den Krampus nicht so gut wie hier in Oberbayern, erklärt die rüstige Spielerin mit den kurzen braunen Haaren und dem grünen Dirndl. So dass der es leicht hat, den Pater mit der Aussicht auf ein Weißbier zu locken - und anschließend im Schuppen einzusperren. Das hat dann wohl mit des Paters Vorliebe für dieses Getränk zu tun, was wiederum für die Erwachsenen eine Gaudi ist.

Alle verfolgen alsdann vergnügt, ob es gelingt, das Weihnachtsfest trotz des weggesperrten Paters und des geraubten Jesuskinds zu retten. Das ist aus Wachs und liegt in einer Krippe auf dem Trojer-Hof. Auch den gibt es gleich zweimal: Oben auf einem Hügel über Kiefersfelden, und als Kulisse, die Gisa Kogler detailgetreu gestaltet hat. Ebenso verhält es sich übrigens mit den Bewohnern des Hofs, der Familie Trojer mit ihren drei Kindern. "Die wollten so gerne in einem meiner Stücke mitspielen, also habe ich ihnen die Freude gemacht", sagt Dorle Dengg. Wie immer bei ihren der Realität entliehenen Darstellern schickte sie Fotos der Protagonisten an die Berchtesgadener Schnitzschule, wo sie seit Jahrzehnten ihre Puppenköpfe herstellen lässt. 450 Puppen sind es inzwischen, ihre Helden kosten sie rund 150 Euro pro Exemplar, "die Kleider nähe ich meistens selbst, da bin ich glücklicherweise geschickt drin".

Dass ihr einmal keine Geschichte mehr zu dem einfällt, was im Dorf so passiert, befürchtet sie nie. "Schon in der Grundschule stand in meinem ersten Zeugnis: "Lesen kann sie noch nicht; aber mit ihrer Phantasie kann sie alles ausgleichen, indem sie sich Geschichten ausdenkt", erzählt Dorle Dengg und lacht. Ihre Stücke improvisiert sie immer wieder aufs Neue, dabei auf die Zurufe ihres Publikums eingehend. Als Gedächtnisstütze dienen ihr allenfalls vorab die jeweiligen Filmaufnahmen.

Lesen hat sie inzwischen natürlich längst gelernt. Doch als die Stadtsparkassen-Filiale, in der sie angestellt war, schloss, geriet die Mutter dreier Kinder ins Grübeln. Sollte sie nicht lieber ihre Passion, das Puppenspiel, zu ihrem Hauptberuf machen? Kurzerhand baute sie mit ihrem Mann das alte Waschhaus von 1936 zur Drehkulissenbühne um. Dazu kam ein Anbau, in dem rund 60 Zuschauer auf Stühlen und Bänken Platz finden. Und haben weder Lothar Roesler, Lehrer an der Musikschule Rosenheim, noch ihre Tochter noch ihre beiden Söhne Zeit, sie bei ihren Aufführungen am Klavier oder auf der Zither zu begleiten, behilft sich Dorle Dengg mit einer 150 Jahre alten Drehorgel selbst.

Die führt sie auch an diesem Nachmittag vor, obwohl Lothar Roesler schon längst am weißen Klavier Platz genommen hat. Sie zeigt den Kindern, wie eine solche Orgel funktioniert, und spielt noch gleich eine der Platten ab, so viel Zeit muss halt sein. Aber da sind nicht nur die Drei- bis Sechsjährigen, die gemeinsam mit ihren Eltern, ihren Opas und Omas begeistert den Krampus verjagen. Da sind auch die "Hinterbänkler", junge Erwachsene von Anfang Zwanzig, mit Glühweingläsern in der Hand, dicht zusammengerückt auf den kleinen, bunt angemalten Stühlen und Bänken. Die erst kichern, sich schubsen, und dann doch mitsingen, bei "Kommet Ihr Hirten", "Stille Nacht" und "Oh Tannenbaum". Sicher, groß ist an diesem Wochenende die Konkurrenz an Veranstaltungen in Kiefersfelden wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht ist es doch auch ein gewisser Zauber, der sie angelockt hat. Genauso wie die beiden Ponys Fritzi und Vreni, die mit ihren Hufen an die Außentür klopfen. Und ganz zum Schluss, als die Tür sich öffnet, neugierig ihre Köpfe in das kleine Theater hineinstecken.

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