Kulturreport:Die letzte Vorstellung

Lisa-Maree Cullum verabschiedet sich als erste Solistin des Staatsballetts von der Bühne

Von Rita Argauer

Lisa-Maree Cullum blickt an ihrem Körper hinab. "Bitte, kooperiere noch einmal mit mir", sagt sie halb im Scherz mit diesem Lachen, das die 43-jährige Tänzerin hinter viele ihrer Sätze packt. Aber diese Bitte hat auch etwas sehr Ernstes: Einmal noch soll dieser Körper, der sie ihre ganze berufliche Laufbahn über 26 Jahre hinweg als einziges und wichtigstes Werkzeug begleitete, nun noch reibungslos funktionieren. Zumindest soll es so aussehen, als verliefe alles wie von selbst, wenn die erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts, die 2008 zur Bayerische Kammertänzerin ernannt wurde, ihre letzte Vorstellung im Münchner Nationaltheater gibt.

Kulturreport: Zeigt her eure Füße: Lisa-Maree Cullum ist bekannt für ausgezeichnete Fußarbeit, die sie auch in John Neumeiers "Sommernachtstraum" in Szene zu setzen wusste.

Zeigt her eure Füße: Lisa-Maree Cullum ist bekannt für ausgezeichnete Fußarbeit, die sie auch in John Neumeiers "Sommernachtstraum" in Szene zu setzen wusste.

(Foto: Charles Tandy)

Doch Lisa-Maree Cullum hat mittlerweile einen gesunden Zugang zu dieser auf den ersten Blick ganz schön erschreckenden Endlichkeit. Ein Weg, der nicht einfach für sie war. Einerseits hatte sie immer wieder Probleme mit ihrem Knie, das sie sich verletzt hatte. Aber auch psychisch hatte sie den Reiz der Ballettwelt in dieser Mischung aus Anstrengung, Hingabe und Glamour verloren: "So lange die Freude auf der Bühne groß war, habe ich die Schmerzen zur Seite geschoben", erzählt sie über die Körperarbeit, die nur funktioniert, wenn man zwangläufig immer über die Grenze, sei es Schmerz oder Anstrengung, hinausgehen muss. Und Cullum hatte eine Art Vereinbarung mit sich selbst, die nur standhielt, so lange sich die Vorstellung auf der Bühne als Verheißung und Versprechen einlöst. Doch: "Mittlerweile fühle ich mich nicht mehr so wohl auf der Bühne", sagt sie, die Schmerzen überwögen: "Ich habe mich immer gefragt, wann werde ich selbst merken, dass Schluss ist?" Eine Erkenntnis, die dann plötzlich für sie da war: "Eines Tage habe ich gesagt, das bin ich nicht mehr. Und ich will aufhören, so lange ich noch einen schönen Abschied machen kann. Es ist der richtige Zeitpunkt."

Kulturreport: 17 Spielzeiten hat die gebürtige Neuseeländerin in München getanzt. "Schwanensee" im Mai 2003.

17 Spielzeiten hat die gebürtige Neuseeländerin in München getanzt. "Schwanensee" im Mai 2003.

(Foto: Charles Tandy)

Doch der Weg zu diesem schönen Abschied kostete noch einmal Überwindung und noch einmal den Schmerz und das Grenzen-überschreitende Training. Seit Beginn dieser Spielzeit hatte Cullum pausiert, sich um ihren dreieinhalbjährigen Sohn gekümmert und in der Welt abseits des Theaters gelebt. "Im Theater passiert es leicht, dass man in dieser sehr speziellen Welt verloren geht", doch diese Welt war eben für Cullum auch lange Alltag. Durch die freiwillige Pause hat sie nun einen anderen Blick auf die Bühnenwelt bekommen: "Obwohl es besonders und toll ist und ich keine Sekunde, die ich erlebt habe, ändern möchte, ist es unecht im Vergleich zu draußen." Den Konflikt zwischen einem Leben in der Kunst und ihrem Dasein als Mutter spürte sie schon länger. Zwei Welten, die sie erst einmal nicht vereinigen konnte. Doch in ihrer Auszeit habe sie auch gemerkt, dass sie sich eben nicht für "Lisa, die Künstlerin" oder "Lisa, die Mama" entscheiden müsse: "Die eine geht nicht ohne die andere. Aber ich habe gebraucht, um das zu verstehen. Das war eine große lesson to learn."

Kulturreport: Die erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts wurde 2008 zur Bayerischen Kammertänzerin ernannt. "Der Widerspenstigen Zähmung".

Die erste Solistin des Bayerischen Staatsballetts wurde 2008 zur Bayerischen Kammertänzerin ernannt. "Der Widerspenstigen Zähmung".

(Foto: Charles Tandy)

Nun fährt sie also wieder jeden Tag in das Probenhaus am Platzl, trainiert und versucht, ihren Körper wieder in Form zu bringen, zur Kooperation mit ihrem Geist und Willen zu bewegen. Viermal die Woche probt sie an "Les Biches", ein Ballett das Nijinskys Schwester Bronislawa Nijinska 1923 für die Ballets Russes choreografierte. Die "Dame des Hauses", die Partie, die Cullum nun ein letztes Mal tanzen wird, ist besonders: Obwohl sie eine ältere Dame darstellt, ist das keine der üblichen Charakterrollen, die man aus den Klassikern kennt, sondern ein tänzerisch anspruchsvolles Stück. "Ich fühle mich sehr verbunden mit dieser Rolle", sagt Cullum, die es besonders schön findet, dass die Figur keinen männlichen Partner hat: "Ich habe zwei Jungs, aber ich werde nicht angefasst, es gibt keinen Pas de Deux." So könne sie sich ganz auf sich konzentrieren, abgesehen davon tanzt keiner ihrer langjährigen Partner, etwa Alen Bottaini, noch. Sie hätte sich auf einen neuen Tänzer einstellen müssen, das habe sie nicht gewollt.

Kulturreport: Mit Alen Bottaini 2010 in "Artifact". Nun wird sich Lisa-Maree Cullum von dem Haus, der Bühne und dem Münchner Publikum verabschieden.

Mit Alen Bottaini 2010 in "Artifact". Nun wird sich Lisa-Maree Cullum von dem Haus, der Bühne und dem Münchner Publikum verabschieden.

(Foto: Wilfried Hösl)

17 Spielzeiten hat die gebürtige Neuseeländerin in München getanzt. Sie kam 1998 mit Ende 20 zum Bayerischen Staatsballett, zu Ivan Liškas erster Saison. Vielleicht hat sie sich deshalb hier einen so besonderen Ruf ertanzen können. Ihre jungen Jahre, in denen ein Bühnencharakter erst gefunden und geformt werden muss, verbrachte sie in Berlin. Nach München kam sie als reife Tänzerin voller charakterlicher Eigenheiten und individuellem Bewusstsein als Künstlerin, die sie so beeindruckend in all die klassischen Rollen legen konnte.

Wegen dieses klassischen Repertoires hatte sie sich auch für den Wechsel nach Bayern entschieden. Ziemlich früh habe sie gewusst, was zu ihr passt und was nicht: Die Klassik lag ihr viel mehr als moderne Sachen: "Ich bin ein Riesen-Fan der reinen Klassik, aber auch der Neo-Klassik", sagt sie, so habe sie zum Beispiel die technische Herausforderung der Aurora in "Dornröschen" sehr gemocht, auch wenn die Rolle emotional nicht so viel hergebe. Anders als MacMillans "Manon", neben der "Kameliendame" ihr Lieblingsballett.

Ihr erstes prägendes Engagement hatte sie in Berlin bei Peter Schaufuss im Ballett der Deutschen Oper. "Ich bin ein Jahr nach dem Mauerfall, mit 18 Jahren, von London nach Berlin gezogen", erzählt sie, das sei eine tolle, frische Zeit gewesen. Doch für die Situation der Theater war es auch eine schwierige Zeit. Denn nach der Wende gab es plötzlich drei große Ballett-Kompanien in der Stadt, die unterhalten werden mussten. Im Zuge der schwierigen Finanzierung habe sich das Repertoire verändert. "Da wurden Stücke gestrichen, die ich unbedingt noch tanzen und lernen wollte", erklärt Cullum. Und das Bayerische Staatsballett sei damals schon für sein breites Repertoire bekannt gewesen. Ihre Mutter, die zu dieser Zeit einmal im Jahr nach Berlin flog, um sie tanzen zu sehen, habe ihr den letzten Anstoß für den Wechsel nach München gegeben. "Sie hat mir bei ihrem letzten Besuch gesagt, dass sie in diesem Jahr keine Entwicklung bei mir sehe", also entschloss sich Cullum, das Angebot, das sie aus München hatte, anzunehmen.

Was auf eine Tänzer-Karriere folgen kann, ist ein dunkles Kapitel. Und auch Cullum ist sich da noch nicht sicher - außer, dass sie dem Tanz weiterhin verbunden bleiben will. "Coachen ist eine große Verantwortung", sagt sie, dennoch möchte sie es versuchen und ein bisschen was von dem, was sie erfahren hat, weitergeben. So wie damals Marcia Haydee, die ihr mit der Einstudierung der Katharina in der "Widerspenstigen Zähmung" half. Oder Peter Schaufuss, dem sie ihre exzellente Fußtechnik zu verdanken habe. Trotz der Unsicherheit fühlt sie sich jedoch gut mit der Entscheidung, ihre aktive Karriere nun zu beenden. Und auch damit, dass sie noch einmal die Qual von Training und Proben auf sich nimmt, noch einmal einsteigt, um eine letzte Partie bewusst zu tanzen: "Ich dachte lange, dass ein Abschied unwichtig ist", erzählt sie, doch es gehe ihr mit dieser letzten Vorstellung nicht nur darum, dass das Publikum sie ein letztes Mal tanzen sehen könne. Auch sie müsse sich von dem Haus und der Bühne verabschieden. Und auch vom Münchner Publikum.

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