Falsche Titanic-Mythen:Warum die Legende ewig fortbestehen wird

Der Untergang der "Titanic" ist von Legenden umrankt: Die Kulturwissenschaftlerin Linda Maria Koldau erkundet, wie es dazu kam, obwohl die Titanic nicht einzigartig war und ihr Untergang auch nicht die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten darstellt. Doch nicht zuletzt James Camerons Filmepos von 1997 macht den Mythos "unsinkbar".

Thomas Medicus

Wer zählt die Bücher, wer die Filme über den Untergang der Titanic, die das immer wieder von neuem erschütterte Publikum seit einhundert Jahren in Bann halten? Liest man Linda Maria Koldau, entsteht der Eindruck, die Autorin habe alles, aber auch wirklich alles Einschlägige über die Schiffskatastrophe gelesen und gesehen.

Menschliche Fehler sind die größte Gefahr für sichere Schiffe

Anders als später kolportiert hat der erste Offizier auf der Titanic exakt das richtige Manöver ausgeführt - leider aber zu spät.

(Foto: dpa)

Man traut ihr glatt zu, dass sie auch die mehr als zweitausend Seiten des Protokolls der britischen wie amerikanischen Kommission zur Untersuchung des Unglücks studiert und geprüft hat. Die in Aarhus lehrende deutsche Musikwissenschaftlerin und Kulturhistorikerin kommt jedenfalls dank analytischer Schärfe zu einem plausiblen Urteil über die Gründe, die zum Untergang des Ozeandampfers führten.

Die Allianz von Musikwissenschaft und Kulturgeschichte erweist sich dabei als Glücksfall. Wer nämlich könnte besser als solch eine doppelt gebildete Autorin darüber Auskunft geben, wie und warum sich der Untergang der Titanic zu einem globalen Gefühlskomplex entwickelte, der bis heute selbst die größten Operndramen in den Schatten stellt? Koldau lässt ihre Leser auf faszinierende Weise an der Fabrikation des Titanic-Mythos teilhaben, kein Wunder deshalb, dass es in ihrem Buch vor allem um "Legende" und "Legendenbildung" geht.

Die durchweg spannende Arbeit am Mythos kommt dabei stets mit bezwingender Lakonie zur Sache. "Die Titanic war nicht einzigartig", heißt es gleich zu Beginn. Zwar war der Ocean Liner das größte Schiff seiner Zeit, aber das nur kurz, schon wenige Wochen nach dem Untergang lief der größere deutsche Dampfer Imperator vom Stapel, bis zum Untergang war das ältere Schwesterschiff Olympic ohnehin bekannter gewesen. Falsch sei es auch, von der größten Schiffskatastrophe aller Zeiten zu sprechen, so Koldau, in Kriegs-, aber auch Friedenszeiten habe es in den letzten hundert Jahren auf den Weltmeeren erheblich höhere Verluste an Menschenleben gegeben.

Die Titanic war auch kein britisches Schiff, wie wir alle glauben, sondern gehörte einem US-amerikanischen Trust an, der das Ziel verfolgte, das nordamerikanische Eisenbahnnetz "durch die Übernahme aller wichtigen Reedereien mit dem Schiffsliniendienst zwischen Nordamerika und Europa zu verbinden." Deshalb machten Transatlantik-Linien wie die White Star Line, der die Titanic gehörte, ihr Hauptgeschäft mit europäischen Auswanderern.

Mitten in einem Eisfeld

Auch das Katastrophenschiff, vom kulturellen Gedächtnis als Luxusdampfer der Schönen und Reichen gespeichert, war als "Auswandererschiff" registriert - die meisten Opfer hatte die Dritte Klasse zu beklagen. Zur unbekannten Prosa der Titanic gehört auch, dass einer ihrer vier mächtigen Schornsteine gar nicht dem Rauchabzug diente, sondern Attrappe war.

Selbstverständlich ist auch für dieses Buch der Hergang der Katastrophe am wichtigsten. Und auch hier beruht so manche Tatsache auf Irrglauben. Koldau lenkt das Augenmerk auf die Route der Titanic sowie die Funker, über die im Nachhinein viel Falsches verbreitet wurde.

Kapitän Edward John Smith und seine Crew waren über die Gefahr der Eisberge südlich der Neufundlandbank bereits bei Reisebeginn informiert, weitere Warnungen erfolgten während der Fahrt. Von einem einzelnen Eisberg, der sich der Titanic plötzlich in den Weg gestellt habe, kann keine Rede sein. Das Schiff befand sich mitten in einem Eisfeld, benachbarte Schiffe wiesen per Funk mehrfach auf die drohende Gefahr hin.

Der erste Offizier William McMaster Murdoch habe, so Koldau, anders als später kolportiert, exakt das richtige Manöver ausgeführt, leider aber zu spät. Schwer sind die Vorwürfe, die die Autorin gegen die Marconi Company erhebt, das für den Funkverkehr verantwortliche Unternehmen. Die Marconi-Funker sendeten Signale, die von dem benachbarten deutschen Schiff Frankfurt missverstanden wurden.

Notsignal SOS missachtet

Schuld am Untergang, so Koldau, war die Raffgier der Marconi-Company, die Kommunikationsprobleme schuf, weil sie die Nachrichten der Passagiere, für die diese bezahlen mussten, gegenüber dem übrigen Funkverkehr bevorzugte und darüber hinaus das international längst vereinbarte Notsignal SOS selbstherrlich missachtete.

Ähnlich verhielt es sich mit der Reederei. Die White Star Line schickte die Titanic auf die kürzere, aber gefährlichere Nordroute, um die Fahrzeit zu verkürzen und schneller in New York anzukommen. Gewinnträchtiges Prestige war der Grund, warum eine im April 1912 besonders gefährliche Eisregion in Kauf genommen wurde.

Auch wenn Koldaus Buch die Titanic systematisch auf den Grund von Tatsachen setzt, weiß die Autorin: "Der Mythos ist unsinkbar." Einerseits tat die Reederei alles, um in den anschließenden Untersuchungen Fakten zu verzerren und zu verschleiern und Unschuldige zu Schuldigen zu stempeln. Eine Haftung musste wegen der immensen Kosten unbedingt ausgeschlossen werden.

Andererseits boten das langsame, sich fast drei Stunden hinziehende Absinken des Schiffes, der Luxus, den sich die mitreisenden Multimillionäre gönnten, die angebliche Unsinkbarkeit der Titanic, das Verhängnis, das sie ausgerechnet auf der Jungfernfahrt traf, das mikrokosmische Abbild der zeitgenössischen Klassengesellschaft, das sie darstellte, Stoff für fortgesetzte Mythenbildung.

Mit der Entdeckung des Wracks kulminierte der Mythos

Mit der Entdeckung des Wracks 1985 kulminierte der Mythos. Jetzt, da man wusste, dass die Titanic auseinandergebrochen war, schwoll der Stoff, aus dem die Untergangsträume sind, erneut dramatisch an. Ohne die Verbreitung von Bildern und Tönen unmittelbar nach dem Untergang, ohne Film, Fotografie, Telefon, Telegraph, ohne die Koinzidenz von beginnendem Medienzeitalter und Katastrophe wäre, wie Koldau ausführlich zeigt, aus dem Titanic-Mythos aber nichts geworden.

Es ist nicht der geringste Gewinn dieser fesselnden Studie, wenn immer wieder auf den säkularreligiösen Charakter dieses Mythos hingewiesen wird. Auf Reliquien und Memorabilien, Heilige und Sünder, archetypische Narrative kann die technische Zivilisation der Moderne bis heute nicht verzichten. Das Drama der Titanic ist dafür das bekannteste Beweisstück, James Camerons Superfilmepos von 1997, für das Dreiviertel des Ozeanriesen in Originalgröße nachgebaut wurden, die spektakulärste Probe aufs Exempel.

LINDA MARIA KOLDAU: Titanic. Das Schiff, der Untergang, die Legenden. Verlag C.H. Beck. München 2012. 303 Seiten. 47 Abb., 1 Karte, 19, 95 Euro.

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