Kulturhauptstadtjahr im Ruhrgebiet:"Woanders is auch scheiße"

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Sie waren noch nie in Oer-Erkenschwick? Dabei haben Heimatverein und Stadtbücherei sich mächtig ins Zeug gelegt, um ihren Beitrag zum Kulturhauptstadt-Jahr zu leisten. Zu dessen Abschluss bangt das Ruhrgebiet um die Nachhaltigkeit der Investitionen.

J. Schloemann

Waren Sie schon mal in Oer-Erkenschwick? Oer-Erkenschwick, eine Stadt mit 30000 Einwohnern am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, war in der letzten Woche turnusmäßig der "Local Hero" der europäischen Kulturhauptstadt Ruhr.2010. Allzu viel von überregionalem Interesse ist für gewöhnlich nicht los in Oer-Erkenschwick, wo die Kohlenzeche als eine der letzten der Region 1997 stillgelegt wurde. Doch Volkshochschule und Heimatverein, Kirchengemeinde und Stadtbücherei haben sich mächtig ins Zeug gelegt, um ihren Beitrag zu dem 53 Städte umfassenden Kulturhauptstadt-Jahr zu leisten. 5500 Veranstaltungen wurden im Ganzen in diesem Ruhrgebietsjahr gezählt.

Neues Wahrzeichen: Markus Lüpertz' Herkules auf dem Turm der Zeche Nordstern in Gelsenkirchen soll an die Bemühungen des Kulturhauptstadtjahres im Ruhrgebiet erinnern. (Foto: dpa)

Nun ist das provinzielle Oer-Erkenschwick zwar nicht ganz typisch für den einst schwerindustriellen Großraum mit seinen Großstädten, für die spektakulären Massenevents, die Theaterprojekte von europäischer Dimension oder die vielbeachteten Ausstellungen und Museums-Neueröffnungen, die in diesem Jahr hier zu erleben waren. Doch am Städtchen Oer-Erkenschwick wird deutlich, dass die beharrliche Rede der Kulturhauptstadtmacher von der "polyzentrischen Metropole Ruhr" Wunschdenken bleibt: Siedlungsgeschichte und urbane Struktur der Gegend zwischen Duisburg und Dortmund, Hagen und Recklinghausen sprechen einfach gegen den Metropolen-Begriff. Mit Stolz und Recht aber kann Ruhr.2010 gleichwohl bilanzieren, dass ein "beispielhafter Geist der Kooperation" das Ruhrgebiet und seine vielfältige Kulturlandschaft ergriffen hat.

In der großen Hoffnung, dass es sich dabei nicht um ein Strohfeuer gehandelt hat, wurde am Samstagabend auf der früheren Zeche Nordstern in Gelsenkirchen das Abschlussfest gefeiert: mit einer Licht- und Musik-Show von zyklopischen Ausmaßen. Noch einmal wurden in Schnee und Eis die vulkanischen Energien des Reviers beschworen, aber nur symbolisch, denn wirtschaftlich setzt man längst auf Dienstleistungen, Wissenschaft, Kultur und digitale Avantgarde. Für das Finale wurde oben auf den einstigen Nordstern-Förderturm die 18 Meter hohe und 23 Tonnen schwere Herkules-Skulptur von Markus Lüpertz gesetzt (Bild oben) - ein weitblickender Riesenwicht, der beansprucht, das neue Wahrzeichen des Ruhrgebiets zu werden.

Im Vergleich zu Kassel-Wilhelmshöhe ist dies der etwas andere Herkules - ein Zeichen des Strukturwandels: In den Industriegebäuden des Gelsenkirchener Nordsternparks residiert heute der Immobilienkonzern THS, der die früheren Bergarbeitersiedlungen verwaltet, und in den Glasaufbau des Turmes soll ein Zentrum für Videokunst einziehen, gemeinsam betrieben von der Münchner Sammlung Goetz und dem Neuen Berliner Kunstverein n.b.k. Das Ruhrgebiet ist mehr als Currywurst und Schimanski.

Die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 unter der Gesamtleitung von Fritz Pleitgen zog am Wochenende ein positives Resümee: 10,5 Millionen Besucher hätten die Veranstaltungen besucht. Über drei Millionen kamen allein zum Autobahn-"Stillleben" auf dem am 18.Juli gesperrten Ruhrschnellweg. Auch die Zahl der Touristen sei um gut 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr gewachsen. Nicht nur habe man das Budget von 61,5 Millionen Euro eingehalten, es seien auch "infrastrukturelle Investitionen in Höhe von rund 500Millionen Euro ausgelöst worden". Es gab Laienchöre und Mahlersymphonien, man feierte ungeschminkt die multikulturelle Einwandererkultur und hatte leider auch die Toten der Loveparade am 24. Juli in Duisburg zu beklagen.

Nun bangt das Ruhrgebiet mit seinen finanzschwachen Kommunen um die Nachhaltigkeit der Kulturinvestitionen. In jedem Fall aber bleiben großartige Neuerungen wie David Chipperfields Folkwang-Museum in Essen, das Ruhr Museum in der Zeche Zollverein oder das Kunstquartier Hagen, um bloß diese zu nennen. In jedem Fall bleibt deutlich mehr von der Kulturhauptstadt als jener Spruch des Großvaters des Bochumer Schriftstellers Frank Goosen, der sich als heimliches Motto verbreitete und der inzwischen auf T-Shirts gedruckt wird. Der Spruch lautet: "Woanders is auch scheiße."

© SZ vom 20.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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