Kulturgeschichte:Nähe überm Abgrund

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Was lässt sich aus den Erfahrungen von Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee für die Gegenwart lernen? Marie Luise Knott deutet die "Erschöpfung der Moderne" im Jahr 1930.

Von Nicolas Freund

Wenn es sich derzeit anfühlt, als stünde die Welt vor einem Epochenbruch, wird häufig auf die Moderne des 20. Jahrhunderts verwiesen, in der eine unserer ähnliche Gesellschaft durch Wirtschaftskrisen, Globalisierungsprobleme und Nationalismus in zwei Weltkriege taumelte. In ihrem Buch "Dazwischenzeit" identifiziert die Journalistin und Übersetzerin Marie Luise Knott das Jahr 1930 als eine Schwelle, an der die Dinge zu kippen begannen: "Nach wie vor beunruhigt die Frage, wie es geschehen konnte, dass der Sieg der Nationalsozialisten 1933 so beschämend einfach war. Und sie beunruhigt umso stärker, je mehr heutzutage einzelne Augenblicke Parallelen zur Zeit vor dem Ende der Weimarer Republik wachzurufen scheinen. Und je mehr heute selbsternannte Alarmisten und Autokraten Parallelen herbeireden."

Anhand von vier Fällen versucht Knott eine kulturelle Bestandsaufnahme. Indem sie über den Theaterregisseur Erwin Piscator, den Maler Paul Klee, über die Dichter Karl Wolfskehl und Bertolt Brecht schreibt, vermisst sie den verlorenen Möglichkeitsraum.

Der Rückbezug in die Gegenwart ist nicht ungefährlich, wie Marie Luise Knott selbst im Vorwort schreibt. Er drängt sich aber öfter auf, als man es wahrhaben möchte; so etwa, wenn Knott das Treffen zwischen Erwin Piscator und Joseph Goebbels schildert. Bis 1930 war Goebbels als Gauleiter der NSDAP für Berlin vor allem mit Pöbeleien aufgefallen ("Alle Parteien haben das Volk belogen und betrogen"), umgab sich aber plötzlich mit Künstlern und Intellektuellen, um gemäßigt und wählbar zu wirken. Deshalb wird ein Rundfunkgespräch mit Erwin Piscator anberaumt, der Regisseur, ein linker Avantgardist, zeigt sich zunächst aufgeschlossen. Die Sendung kam nie zustande, aber die Protokolle, die Knott anführt, verraten viel darüber, was es bringt, mit Rechten zu reden.

Piscator schrieb über das Treffen: "Er gefiel mir plötzlich mehr, als er mir mißfiel, er mißfiel mir weniger, als er mir gefiel. Mir schien, wir beide kamen uns vor wie zwei sagenhafte aus der Unterwelt aufgestiegene Tiere, die, über einen abgrundtiefen Erdspalt einander zugebeugt, sich ins Gesicht starren. Und das Gesicht war ein Menschengesicht."

Goebbels schrieb: "Piscator ist gar kein Kommunist mehr. Er steht uns näher als der Roten Fahne. Dabei persönlich ein angenehmer und sauberer Bursche."

Piscator fiel auf den Charme des Gauleiters herein und wollte ihm gerne menschlich begegnen. Goebbels dagegen urteilte über Piscator, gönnte ihm einen Platz in seiner Vorstellungswelt. Von Anerkennung keine Spur. Knott formuliert es so: "Piscator hatte die Welt ins Theater geholt, Goebbels formte sich die Welt nach seinem Theater."

Paul Klee sah "einen Verlust des Individuellen und des Raums zwischen den Menschen"

Dass die Welt, die 1930 entsprang, auch eine andere hätte sein können, deutet das Kapitel über Karl Wolfskehl an, der in Schwabing Salons und Maskenbälle veranstaltete, eine große Privatbibliothek anlegte und unablässig daran arbeitete, vergessene Texte in die Gegenwart zu retten. Seine Rekonstruktion eines verlorenen Deutschlands erscheint heute zugleich in Verwandtschaft und scharfem Kontrast zur Deutschtümelei der Nazis. "Ihm waren Ferne und Fremde nie Bedrohung," stellt Knott fest, "sondern Nährstoff. 'Jüdisch, römisch, deutsch zugleich', wie er schrieb, verkörperte seine Familiengeschichte die gegenseitige Befruchtung von Kulturen, Zeiten, Jahrhunderten." Der heute vielen unbekannte Wolfskehl ist nun selbst eine dieser "verschütteten Überlieferungen", ein verloren gegangener Gegenentwurf. Wolfkehls geliebte Barockdichter wurden von den "motorisierten Gesetzen" der Nationalsozialisten überrollt.

Gerade diese Sprache, in der auch Goebbels über Piscator schrieb, nahm sich Brecht in seinem Stück "Die Maßnahme" zum Gegenstand. Schon mit dem Titel ist eine Hinrichtung gemeint. Knott arbeitet heraus, wie Brecht Jahrzehnte vor der Sprechakttheorie vor der performativen Kraft der Sprache warnte und wie die Menschen in ihren "Gedankengebäuden" verharrten, die um sie herum gerade abgerissen wurden.

Wie diese sehr losen Enden zusammenzuführen sein könnten, schlägt Knott im letzten Kapitel über Paul Klee vor, denn dieser "zeichnete und malte also in dem festen Vertrauen, dass sich mitten im ungedeuteten Tun irgendwann etwas auftut, was die einzelnen (...) Elemente verbindet". Dies ist auch das Verfahren Knotts zur Darstellung dieser Epoche, die sich im Fragmentarischen spiegelte. Klee sah für sie "einen Verlust des Individuellen und des Raums zwischen den Menschen", einen "Zerfall der Gesellschaft".

Ein Motiv in allen Kapiteln sind die Masken auf dem Theater wie den Bällen Wolfskehls. Gerade die Versuche, Abgründe zu überwinden, so ließe sich die Argumentation zuspitzen, offenbarten den Verlust von Verbindendem. Theater und Salons waren nicht mehr Räume der Gemeinsamkeiten, die Sprache zersplitterte. Der Schluss auf die Gegenwart ist nicht zwingend, aber aufschlussreich.

Marie Luise Knott: Dazwischenzeit. 1930. Wege in der Erschöpfung der Moderne. Matthes & Seitz, Berlin 2017. 192 Seiten, 20 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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