Kulturgeschichte:Moskaus Duft, minus 49 Grad

Warteschlange, Gemeinschaftswohnung, Datscha, Palmen, Terror, Gorki-Park und Feste: Der Historiker Karl Schlögel entwirft ein imaginäres Museum der Sowjet-Zivilisation.

Von Jens Bisky

Stendhal Pneus

Stendhal Pneus Ein Name kann eine Landschaft manchmal zusätzlich beseelen. Die Garage Stendhal gibt es wirklich, ich habe das ramponierte Gebäude eines Tages auf der Fahrt von Bordeaux zur Atlantikküste hinter hohen Gräsern entdeckt. Ich hab mich damals gefragt, ob der Besitzer wohl ein Nachkomme von Stendhal ist, oder ob er Stendhal gelesen hatte und der Name eine Ehrbezeugung war. Hatte Stendhal selbst hier eines Tages die Reifen seiner Pferde gewechselt? Kennt der Automechaniker das Stendhal-Syndrom? War er irgendwann mal ohnmächtig geworden angesichts der unfassbaren Schönheit einer alten Klapperkiste, deren Vergaser völlig verdreckt war?

Das beliebteste Damenparfüm der Sowjetunion hatte mehr als zufällige Gemeinsamkeiten mit einem Duft der freien Welt. "Krasnaja Moskwa" - "Rotes Moskau" - wurde 1925 kreiert und kam zwei Jahre später in die Läden. Bald kannte es jede. "Überall da, wo es festlich zuging und Frauen sich schön machten", schreibt der Historiker Karl Schlögel in seinem Buch "Das sowjetische Jahrhundert", "lag der Duft dieses Parfüms in der Luft": in Theaterfoyers, zum ersten Schultag, zum Internationalen Frauentag am 8. März. Danach kam es mit den sowjetischen Streitkräften und den Offiziersfrauen in die verbündeten Länder des Ostblocks.

Mit "schöner Wärme, spielerischer und koketter Träumerei, melodischem, plastischem Wohlklang" hat man den klassischen Duft assoziiert. Manche fanden ihn aufdringlich, andere verblüffte die "Kombination von Strenge und Sexuellem, Zartheit und Bestimmtheit".

Über 60 Komponenten kamen in "Krasnaja Moskwa" zusammen, aber die Kreation war vorrevolutionären Ursprungs. Zum Jubiläum der Romanow-Ddynastie im Vorkriegsjahr 1913 war der Mutter des Zaren als aufwendiges Geschenk das "Bouquet Catherine II" überreicht worden, russisch meist "Lieblingsbouquet der Kaiserin" genannt. Einer der St. Petersburger Parfümeure französischer Herkunft kam nach der Revolution nicht aus Russland heraus, da sein Pass verloren gegangen war. Also arrangierte sich Auguste Michel mit den neuen Verhältnissen und baute den ersten sowjetischen Parfümeriebetrieb auf: "Neue Morgenröte". Er modifizierte das einst der Zarenmutter gewidmete Parfüm und schuf so den "Duft für die moderne sowjetische Frau".

Kulturgeschichte: Ein Remake des klassischen Damenparfüms „Krasnaja Moskwa“.

Ein Remake des klassischen Damenparfüms „Krasnaja Moskwa“.

Sein Kollege Ernest Beaux hatte nach Frankreich emigrieren können, fand dort Kontakt zu Coco Chanel, die einige Exilrussen kannte und sich vom fünften Versuch eines Damenparfüms überzeugen ließ: "Chanel No 5", entwickelt von Ernest Beaux, dem Schöpfer des "Lieblingsbouquets der Kaiserin". Kurz: "Krasnaja Moskwa" und "Chanel No 5" haben einen gemeinsamen Ursprung. Ihre Geschichte, so Schlögel, stehe "für nicht weniger als die Teilung der Welt im 20. Jahrhundert".

Die Geschichte des Parfümklassikers "Krasnaja Moskwa" ist eine von Dutzenden in Schlögels "Archäologie einer untergegangenen Welt". Er erzählt sie nicht als Kuriosa, "Archäologie" ist ihm keine Metapher. Anknüpfend an die Ausgrabungen auf Friedhöfen, auf dem Gelände früherer Lager im Zuge der Perestroika, als die spätsowjetische Gesellschaft Kraft und Sprache fand, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen, will Karl Schlögel Spuren sichten und sichern, Gegenstände und Bilder beschreiben, Objekte freilegen, Zeitschichten unterscheiden, die Lebenswelt der Sowjet-Zivilisation erkunden. Die gut 60 Einzelstudien runden sich nicht zu einem Panorama, in dem man bequem zwischen Gesamtbild und Nahaufnahme interessanter Einzelheiten wechseln könnte. Auch ist enzyklopädische Vollständigkeit nicht beabsichtigt in dieser Revue der Lebensformen einer "Zivilisation sui generis".

Ein Höhepunkt des Buches ist die Vergegenwärtigung der Gemeinschaftswohnung, der "kommunalka", in der der Sowjetmensch gehärtet wurde

Er wolle das Bild neu zusammensetzen, hatte Karl Schlögel geschrieben, als er 2013 sein Vorhaben in der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung in München vorstellte. Das Wissen über Haupt- und Staatsaktionen, Parteitagsdokumente, Mordbefehle, Kreml-Intrigen, Strukturen wird vorausgesetzt, um einen Kontinent zu erkunden, über den viele schon alles Nötige zu wissen glauben. Aber wissen wir wirklich, wie sich nach Krieg, Revolution, Bürgerkrieg ein neuer Lebensstil herausbildete, wie die "Flugsandgesellschaft" (Moshe Lewin) in den Jahren des Terrors ihren Alltag organisierte, sich ein Bild von sich selbst zu machen versuchte, als Leben vor allem täglicher Kampf ums Überleben war, wie sie sich nach dem deutschen Angriff im Vernichtungskrieg behauptete, nach dem Sieg wieder Atem schöpfte? Noch einmal entfacht Karl Schlögel die Neugier. Sie ist die Form, in der eine ganz unsentimentale Menschenliebe und Zuneigung sich äußert, als Hinwendung zum Dasein der vielen, mit ihren großen Leistungen und normalen Sehnsüchten, ihrem Heldentum und ihrer Niedrigkeit. Als Historiker der Städte ist Karl Schlögel bekannt geworden mit Büchern über Sankt Petersburg als "Laboratorium der Moderne", über das russische Berlin und über Moskau 1937. Nach der Annexion der Krim hatten viele rasch eine Meinung, gern geopolitisch hochgerüstet, Schlögel aber fuhr in die Städte der Ukraine, um am Ort des Geschehens herauszufinden, was auf dem Spiel steht: "Entscheidung in Kiew" hieß 2015 seine Sammlung von Städteporträts.

Das muss hier erwähnt werden, da Schlögel gerade wegen seiner Entscheidung für die Anschauung, für das Konkrete, für Düfte, Temperaturen, Atmosphären ein hoch reflektierter Historiker ist. Er kann Augenschein und Oberfläche ernst nehmen, weil er weiß, dass sie für sich, ohne die Anstrengung des Verstehens, stumm bleiben. Sein Ort der Erkenntnis ist der des Epochenendes, daher beginnt die Spurensuche auf Trödel- und Flohmärkten, auf Basaren in Sankt Petersburg und Moskau, auf denen verkauft wird, was blieb: Samoware, Matrjoschkas, Abzeichen, Fotos, Nippes; die "Splitter des Imperiums".

Kulturgeschichte: Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. Verlag C. H. Beck, München 2017. 912 Seiten, 38 Euro. E-Book 31,99 Euro.

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt. Verlag C. H. Beck, München 2017. 912 Seiten, 38 Euro. E-Book 31,99 Euro.

Ein Höhepunkt des Buches ist die Vergegenwärtigung der sowjetischen Binnenräume, der Interieurs, der Zeltstädte, der Baracken, der Treppenhäuser, der Toiletten und der Gemeinschaftswohnung, der "kommunalka", in der "der Sowjetmensch gehärtet wurde". Obwohl Millionen in ihr lebten, haben die großen bürgerlichen Wohnungen, in denen nach der Revolution dreißig, vierzig oder mehr Menschen neben, mit- und aufeinander wohnten, lange kaum Aufmerksamkeit gefunden.

Der in Leningrad geborene, 1972 aus der Sowjetunion ausgewiesene Dichter Joseph Brodsky hat dem Leben auf engstem Raum den Essay "In eineinhalb Zimmern" gewidmet: "Selbstverständlich hatten wir eine gemeinsame Toilette, ein gemeinsames Badezimmer und eine gemeinsame Küche. ... Die Wäsche hing in den beiden Korridoren, die die Zimmer mit der Küche verbanden, und man kannte die Unterwäsche seiner Nachbarn auswendig." Das Aufeinanderhocken lege "das Leben bloß, bis auf den Grund", jede Illusion über die menschliche Natur werde einem geklaut: "An der Lautstärke des Furzes erkennt man, wer auf der Toilette sitzt, und du weißt, was einer zu Abend oder zum Frühstück gegessen hat. Man erkennt ihre Laute im Bett und weiß, wann die Frauen ihre Tage haben. Oft wird dir selbst vom Nachbarn oder der Nachbarin das eigene Leid anvertraut, und oft sind sie es, die den Krankenwagen rufen, falls man eine Angina-Attacke oder was Schlimmeres hat. Und eines Tages finden sie dich tot auf einem Stuhl, falls du allein wohnst, oder umgekehrt."

Diese Art des Zusammenlebens prägt das Verhalten, die psychische Konstitution. Robustheit, so Schlögel, werde ebenso wichtig wie "die Ausbildung einer gewissen Gleichgültigkeit gegen sonst als verletzend und groß wahrgenommenes Verhalten". Da hinter den dünnen Trennwänden daheim der Privatraum fehlt, werden Kultureinrichtungen wichtiger, ob Theater, der berühmte Gorki-Park in Moskau oder das Konservatorium. In der Wohnung aber ist ständige Anspannung erforderlich, was Erschöpfung mit sich führt und zum ökonomischen Umgang mit den eigenen Kräften zwingt. Höflichkeit kann da schnell als überflüssige Kraftanstrengung erscheinen.

Schlögel bleibt jedoch nicht dabei stehen, das Leben in der Gemeinschaftswohnung als Verfall bürgerlicher Subjektivität zu beschreiben. Für viele, für Millionen, die vom Land in die Städte zogen, war sie der erste Schritt zu einer neuen Lebensweise. Gemeinsam erlebte das Land dann in den Neubauten der Chruschtschow-Zeit und ab den Sechzigerjahren in den Plattenbauten die "Geburt der Privatsphäre". Der Alltag war nicht länger Ausnahmezustand.

Leseprobe

Schlögel berichtet auch von den Großbaustellen des Sozialismus, von Magnitogorsk, dem Wasserkraftwerk Dnjeproges, dem Weißmeer-Ostsee-Kanal, und von der Welt des Gulag, über den nur reden sollte, wer versucht hat sich vorzustellen, was Kälte ist. Eiseskälte, die den Atem gefrieren lässt, die es in feuchter Kleidung zu überleben gilt. Bei minus 50 Grad konnte man in der Baracke bleiben, bei 49 Grad Frost musste man hinaus zur Arbeit.

Datschen und Erholungsheime, der Katalog der verbotenen Bücher, die Tätowierungen der Häftlinge, Porzellanfiguren, ein Kochbuch der Stalinzeit, Grenzkontrollen und Militärparaden, Küchen, Sport, Kleidung, Statistiken, Architekten, Fotografen, Lautsprecher, das Fehlen von Telefonbüchern, die Wege übers Land, Eisenbahnlinien und vieles mehr werden in dieser Spurensuche beschrieben, beschworen, gedeutet. Das "Haus an der Moskwa", das zur Menschenfalle wurde, wovon Juri Trifonow in seinem berühmten Roman erzählte, wird ebenso vorgestellt wie das Lenin-Mausoleum oder die allen vertraute Stimme Juri Borissowitsch Lewitans, der im Radio die Meldungen und Berichte von den Fronten des Großen Vaterländischen Krieges sprach.

Die gesamte Darstellung läuft auf den Plan für ein Museum der Sowjetzivilisation hinaus. Es fände seinen angemessenen Ort in Moskau, in der Lubjanka, seit 1918 Sitz der Geheimdienste Tscheka, GPU, OGPU, NKWD, MWD, NKGB, KGB, FSB. Hier Inhaftierte und Gefolterte haben Kritzeleien an den Wänden ihrer Zellen hinterlassen, haben versucht, die Wege im riesigen Komplex, das System der Höfe nachzuzeichnen. In den Dienstzimmern hingen die Porträts der Chefs seit Feliks Dsershinski. Die Lubjanka sei groß genug, zentral genug, hier liefen die Fäden vieler Schicksale zusammen, hier liegen die Akten; der immer wieder veränderte Komplex sei "in seiner labyrinthischen Struktur der angemessene Raum, um ein heilloses Jahrhundert Revue passieren zu lassen".

Der Vorschlag ist einleuchtend, er ist kühn. Er verrät etwas vom Ethos dieser Archäologie der sowjetischen Welt, von der Hoffnung darauf, dass Gesellschaften im Gespräch über ihre Vergangenheit diese hinter sich lassen können. Wenn sie eine Sprache dafür finden, werden die Machthaber nicht das letzte Wort behalten.

Karl Schlögels Buch "Das sowjetische Jahrhundert" erscheint am 19. Oktober.

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