Kulturelle Hintergründe des Konflikts:Warum Russland der Türkei misstraut

MOSCOW RUSSIA NOVEMBER 24 2015 A man stages a one person protest outside the Turkish Embassy in

Wut auf die Türkei: Ein Mann protestiert vor der türkischen Botschaft in Moskau.

(Foto: imago/ITAR-TASS)
  • Kämpfe um die Krim, um den Balkan, um den Kaukasus haben in Russland über Jahrhunderte die Vorstellung vom heimtückischen Türken gefestigt.
  • Immer noch gibt es das Vorurteil vom Türken, der einem seinen Dolch in den Rücken rammt.

Von Tim Neshitov

Wenn Wladimir Putin sagt, die Türkei habe Russland mit dem Abschuss des russischen Kampfjets "einen Stoß in den Rücken" verpasst, drückt er mehr als wütende Verwunderung aus. Der russische Staatschef staubt da ein sehr altes Feindbild ab. Der Türke: heimtückisch, blutrünstig, der mit dem krummen Säbel.

Manche Feindbilder sitzen in der Massenpsyche tiefer als andere, was nur bedingt etwas mit den historischen Umständen ihrer Entstehung zu tun hat, zum Beispiel mit der Menge Blut, die der Feind einst vergoss. "Die Deutschen" sind in Russland längst nicht mehr "die Nazis", sondern höchstens (aber auch nur in letzter Zeit) die selbstdestruktiven Anführer eines dekadenten Abendlandes, die nebenbei auch solide bauen und brauen können. Mit den Türken sieht es etwas anders aus.

Der Türke war in Russland nie der alte Mann mit der Aldi-Tüte. Es gab keine türkischen Gastarbeiter in Russland. Was es schon immer gab, waren erstens die orientalischen Klischees, denn Lord Byron ist auch in Russland ein Superstar. Und diese Harem-Serail-Romantik hielt in Russland deswegen länger als in Europa an, weil der Kontakt mit lebendigen Gegenwartstürken in der Sowjetunion minimal war.

Es gab schon immer die Vorstellung vom heimtückischen Türken

Noch wichtiger: Es gab schon immer die nun von Putin so subtil bediente Vorstellung vom heimtückischen Türken. Die erklärt sich aus den zahlreichen Kriegen, die das Russische und das Osmanische Reich seit dem 16. Jahrhundert gegeneinander führten. Man kämpfte um die Krim, um den Balkan, um den Kaukasus, darum, wessen Gott der wahre ist. Diese von Generation zu Generation übertragene Erinnerung an Blut, Feuer und rollende Köpfe drang in Russland noch stärker ins Folkloristische hinein als die Erinnerung der Europäer an die Belagerungen Wiens durch "die Muselmänner".

Kornej Tschukowskij, eine der schärfsten Federn Russlands Anfang des 20. Jahrhunderts, Übersetzer Walt Whitmans, wurde erst mit einem Gedicht richtig berühmt, das er 1916 für Kinder schrieb. Es heißt "Krokodil" und wird bis heute in Kindergärten auswendig gelernt.

Es war einmal

Ein Krokodil.

Das lief über die Straßen,

Rauchte Papirossi.

Und sprach Türkisch.

Krokodil, Krokodil Krokodilowitsch.

Man dachte, da hatten sich zwei gefunden

Das Gedicht erzählt in ohrwurmigen Reimen, wie Krokodil Krokodilowitsch erst von Jung und Alt ausgelacht wird ("Was für eine Nase, was für ein Mund!") Wie es dann von einem Hund in die Nase gebissen wird und diesen Hund auf der Stelle verschlingt. Es kommt der Polizist: "Wie wagst du es, hier herumzulaufen und Türkisch zu sprechen?" Das Krokodil verspeist auch den Polizisten, samt Uniform. Es steigt frech in die Tram ein, es wütet und wütet - bis der tapfere Wanja Wassiltschikow (so tapfer, dass sein Kindermädchen ihn allein spazieren lässt) dem Krokodil mit seinem Holzsäbelchen droht. Natürlich gibt sich das Biest geschlagen. Wanja Wassiltschikow ist ein Held mehrerer Generationen russischer Kinder.

Zuletzt lief es besser. Die Türkei bot Lederjacken, Levi's-Kopien und All-inclusive-Strände

Tschukowskij schrieb das Gedicht mitten im Ersten Weltkrieg, als die osmanische und die russische Armee sich am Kaukasus bekämpften. Aber verlegt wird es bis heute - und auch nachillustriert (hier ein Bild von 2010).

Kulturelle Hintergründe des Konflikts: Fes, Zwicker, Reißzähne: So zeigen russische Kinderbücher das Klischee vom Türken bis heute.

Fes, Zwicker, Reißzähne: So zeigen russische Kinderbücher das Klischee vom Türken bis heute.

(Foto: Illustrators.ru)

Natürlich wurden die Feind- und Freundesbilder der Russen nach dem Zerfall der Sowjetunion durcheinandergewirbelt. Die Türkei war auf einmal das Land, aus dem raue Lederjacken und Levi's-Kopien kamen und Socken, die man nur einmal anziehen konnte. Bald wurde die Türkei zu dem Land, an dessen All-inclusive-Stränden man dem kalten russischen Herbst entkommen konnte, wenn auch nicht den eigenen Landsleuten.

Türken, die nach Russland kamen, waren Studenten, Obstgroßhändler, Bauunternehmer, Gastronomen. Inspiriert vom islamischen Prediger Fethullah Gülen wurden Schulen gegründet. Türken heirateten Russen, und auf den Hochzeiten wurden unbedingt Sergej Jessenins trunkene Bosporus-Zeilen von 1924 vorgetragen: "Nie war ich am Bosporus, frage mich nicht danach. In deinen Augen sah ich ein blau loderndes Meer. . ."

Das Klischee liegt weiterhin zuoberst in der Schublade

Man kann sagen, dass die russisch-türkischen Beziehungen, rein atmosphärisch, zuletzt eine gewisse Normalität erreicht hatten. Das Bild vom Türken aber, der einem seinen Dolch in den Rücken rammt, sobald es um die Wurst geht, liegt weiterhin in einer der oberen Schubladen. Man dachte sogar zuletzt, da hatten sich zwei gefunden: Putin und Erdoğan, der Zar und der Sultan.

Anti-türkische Proteste in Moskau

"Erdogan Laden": Auf einer Pappe vor der türkischen Botschaft in Moskau wird der türkische Staatschef mit dem einstigen Al-Qaida-Chef Osama bin Laden verglichen.

(Foto: AFP)

Bei der Eröffnung der riesigen Moschee zu Moskau (sechs Stockwerke, sieben Fahrstühle) im September gab sich der fromme Sultan beeindruckt: "So etwas haben wir in der Türkei noch nicht." Nun müssten sich die beiden zu einem unangenehmen Gespräch unter vier Augen treffen.

Das nennt man in der Türkei: "Krumm sitzen, offen reden."

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