Kultur:Was ist los in Polen?

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Zweieinhalb Stunden, keine Pause: In "Granice/Borders" ist die Bühne ein Versuchslabor, durch das die Schauspieler wüten, lachen und tanzen. (Foto: Staatstheater Nürnberg)

Das Festival "Talking About Borders" am Nürnberger Staatstheater erscheint im Licht der jüngsten Ereignisse hochpolitisch

Von Florian Welle

Und nach vier Tagen Musik, Preisverleihung, Diskussion und sehr viel Theater drehte einen das Teatr Polski Bydgoszcz mit "Granice/Borders" von Julia Holewinska noch einmal durch den Wolf. Gleichzeitig mit dem Achtelfinalspiel der Deutschen, zweieineinhalb Stunden lang, keine Pause. Vier junge, äußerst tanzaffine Schauspieler und ein etwas verlebter älterer wüten, lachen, tanzen. Drehen auf der Kammerspielbühne, die hier ein bisschen wie Daniel Düsentriebs Versuchslabor aussieht, an irgendwelchen Reglern, wälzen sich über einen körnerübersäten Boden und machen auch sonst die wunderlichsten Dinge - etwa sich einen Plastikkaktus ins Auge rammen. Dabei tragen sie die merkwürdigsten Kostüme, die man seit langem gesehen hat.

Die eine hat sich Moos aufs Hemd geklebt, der andere sich aus einer Ikea-Tüte eine Jacke gebastelt. Das Wundersamste aber ist: Es wird kein spaßiges Happening veranstaltet, sondern der Umgang Europas mit den Flüchtlingen verhandelt. Nur eben ohne erhobenen Zeigefinger, Gutmenschentum, hohles Pathos. Zumindest scheint es so zu sein, als solle dies alles unbedingt vermieden werden. Dagegen wird von Regisseur Bartosz Frackowiak, ebenso jung wie die Darsteller, ein Feuerwerk an Ideen gezündet. Mal sind sie schlau, mal gaga, mal dann doch pathetisch.

Vor allem aber sind sie ehrlich, fragen welche Rolle die Kunst dabei spielt und stellen im Grunde eines aus: die eigene Ratlosigkeit, die eigene Überforderung. Und sind dadurch um vieles näher und unmittelbarer am Thema als etwa die zigste "Nathan"-Inszenierung. Auch der Zuschauer versteht oft nur Bahnhof. Und das nicht bloß, weil er zeitgleich die Übersetzungen mitlesen muss. Der Hintergrund von "Granice/Borders", das mehr überbordende Performance ist als Stück mit stringenter Handlung, ist die Spieltheorie.

"Was ist los in Polen?" hat ein paar Stunden zuvor eine unter anderem mit der deutsch-polnischen Schriftstellerin Brygida Helbig prominent besetzte Podiumsdiskussion gefragt. Die Runde gab keine wohlfeilen Antworten. Vor allem wurde dafür plädiert, die Gründe für den Aufstieg der PiS-Partei sachlich zu analysieren. Die Regierungspartei nur vorschnell zu verurteilen, hieße, die Ursachen zu verdrängen. Und das Verdrängte, so führte Helbig Sigmund Freud ins Feld, kehre wieder. Nur dann als das Unheimliche per se.

Die Frage "Was ist los in Polen?" blieb also im Raum stehen. Eine andere beantwortete das Festival "Talking About Borders" hingegen mit seinen (Gast)Inszenierungen aufs Schönste. Wer wissen wollte, was im jungen polnischen Theater derzeit los ist, dem schien alles zuzurufen: ziemlich viel. Das Festival wurde vor zwölf Jahren von Christian Papke gegründet. Es ging dem umtriebigen Leiter damals darum, den interkulturellen Dialog Deutschlands mit den Ländern Osteuropas durch einen Dramenwettbewerb, der auch heute noch das Herzstück ist, zu fördern. Die heutigen Kriege in der Ukraine und Syrien haben "Über Grenzen reden" nun unversehens hochpolitisch aufgeladen.

Nachdem man in der Vergangenheit jeweils in einer anderen deutschen Stadt Station machte, ist das Festival seit 2015 am Nürnberger Staatstheater beheimatet. Letzte Spielzeit hieß das Gastland Armenien, diesmal war Polen dran, im nächsten Jahr gibt es mit Tschechien und der Slowakei erstmals ein Doppel. Das Tolle an dem Dramenwettbewerb ist der Umstand, dass die Texte anonym eingereicht werden müssen. Und so kam es diesmal dazu, dass nur polnische Youngster die Preise abräumten, obwohl auch die renommiertesten Dramatiker des Landes teilnahmen, wie die Jury hinterher erfuhr. In szenischen Lesungen stellten hiesige Staatsschauspieler die Gewinnerstücke vor.

Der Eindruck: Egal ob man wie Beniamin Maria Bukowksi mit "Mazagan, the city" in die Geschichte zurückgeht (3. Platz). Oder wie Joanna Mazur mit "The Spot" das auf eigenen Erfahrungen basierende Leben als Arbeitsnomadin des 21. Jahrhunderts thematisiert (2. Platz). Oder wie die Gewinner Jerzy Wójcicki und Mariusz Wiecek mit "Life Is Loading" ihre Generation Facebook seziert. Immer besitzen die Texte neben sozialdiagnostischer Tiefenschärfe ungeheuer viel Witz. "Life Is Loading" wird in der nächsten Spielzeit in Nürnberg uraufgeführt.

Erstmals kam es auch zu einer Zusammenarbeit mit der Bayerischen Theaterakademie. Zwei Regiestudenten erhielten die Gelegenheit zu Werkstattinszenierungen. Julia Prechsl stemmte in nur zehn Tagen Probezeit mit Ensemblemitgliedern des Staatsschauspiels "Trash Story" der 1975 geborenen Magda Fertacz - das Polen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wird in dem Stück dem Polen unmittelbar nach dem Irak-Krieg gegenübergestellt. Damals wie heute kehren die Söhne traumatisiert wieder. Trash heißt Müll, und weggeworfen werden hier das Leben und die Träume junger Menschen. Doch selbst in diesem Drama fehlt es nicht an Humor.

Bei allem Ernst den Witz und den Spott nicht zu verlieren, scheint eine polnische Theatertradition zu sein, die sich bis heute erhalten hat. Caner Akdeniz inszenierte "Die Kartei" von Tadeusz Różewicz, einen Klassiker des absurden Theaters Polens, 1960 uraufgeführt. Darin liegt ein Mann im Bett und bekommt (Traum)Besuch von allerlei schrägen Typen. Akdeniz hat das Bett weggelassen, dafür eine Betonmischmaschine hingestellt und den Helden mit Matsch übergossen. Was folgt, ist eine herrlich vermatschte Feier des Verrückten, der nur ein Satz genügt, um den bitterernsten Hintergrund der dramatischen Miniatur aufscheinen zu lassen: "Wie hast du den Krieg verbracht, die Okkupation?"

© SZ vom 28.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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