Künstlersozialkasse:Die ausgesaugte Klasse

Ein Kreativer verdient 1000 Euro im Monat und will auch noch eine Versicherung? Etwas viel verlangt, findet offenbar die Wirtschaft und ruft nach Abschaffung der Künstlersozialkasse.

Andreas Zielcke

Am Anfang, 1983, als die Künstersozialkasse installiert wurde, machten sich selbst Kunstschaffende über sie lustig. Nicht anders als Willy Brandts Hohn über Verfassungsfeinde als Beamte - was ist grotesker als ein Revolutionär mit Pensionsanspruch? - spottete man, die neue Sozialkasse kreiere den lachhaften Künstler mit Rentenansprüchen, der mit 65 erlöst Meißel, Feder oder Dirigentenstab fallen lasse.

Doch eben weil derlei bohemienhafter Hochmut nicht vor dem Fall in die Krankheits- und Altersarmut schützt, gibt es die Künstlersozialkasse. Das Bedürfnis nach bürgerlicher Absicherung hat sich unter den freien Künstlern und Publizisten inzwischen - wenn auch mit dem Nachdruck gesetzlicher Pflicht - durchgesetzt, der segensreiche Zweck ist anerkannt, die Mitgliederzahl explodiert. Zur Zeit sind es rund 160.000. Und das kostet echtes Geld, das die Künstler nur zur Hälfte aufbringen; die andere Hälfte teilen sich die verwertende Wirtschaft (30 Prozent) und der Staat (20 Prozent).

Nun aber will die deutsche Wirtschaft nicht mehr mitspielen, ja sie will die Künstlersozialkasse gänzlich abschaffen. In einem Brief der Geschäftsführung des Deutschen Industrie- und Handelskammertages fordert sie: "Die Wirtschaft hat ordnungspolitische Bedenken bezüglich der Konstruktion der Künstlersozialkasse ... Sie ist insgesamt unsystematisch und bürokratisch. Sinnvoll wäre es daher, diese Sonderform einer Sozialversicherung mittelfristig nicht weiter fortzuführen."

Die Wirtschaft hätte, wenn es ihre Absicht ist, Öl ins Feuer zu schütten, den Zeitpunkt nicht besser wählen können. In der aktuellen Diskussion um soziale Gerechtigkeit wirkt die Forderung nach Abschaffung der Künstlerkasse wie ein gezielter Tiefschlag. Er trifft eine Einkommensgruppe, die trotz ihres stolzen Selbstbildes einer gewollten Außenseiter- und Kreativexistenz zu den wirtschaftlich und sozial Deklassierten des Landes gehört. Allein die Zahlen verraten schiere Erbärmlichkeit. Das durchschnittliche Einkommen aller versicherten Künstler und Publizisten liegt derzeit unter 1000 Euro brutto im Monat.

Und keiner weiß um die elende Lage besser als die verwertende Wirtschaft, die ja die Honorare zahlt. Abgesehen davon hat eben erst, am 11. November, die Enquetekommission des Bundestages "Kultur in Deutschland" ihren großen Abschlussbericht vorgelegt, der noch einmal in detaillierter Ausführlichkeit die Einkommensverhältnisse der freien Kulturschaffenden darstellt.

Jedem, der die Zahlen zur Kenntnis nimmt, ist klar, dass alle Kunst, mit der Kulturschaffende ihr Brot verdienen, verblassen muss gegenüber der so genannten Lebenskunst dieser marginalisierten Kreativhelden - Lebenskunst ist hier der Euphemismus für einen verlustreichen Lebenskampf zwischen poetischem Höhenflug und trivialer Überlebenssorge.

Symbiotisches Verhältnis

Nun hat die Wirtschaft, die für die freien Kulturschaffenden zur Kasse gebeten wird, in der Tat mit dem Argument recht, dass sie systemwidrig in Anspruch genommen wird. Alle anderen freien Berufe - Ärzte oder Anwälte etwa -, die ebenfalls eigene Sozialkassen unterhalten, werden ausschließlich von den Freiberuflern selbst finanziert. Im Prinzip ist die Künstlersozialkasse der Versicherung von Angestellten nachgebildet, bei der sich die Arbeitnehmer und Arbeitgeber die Beiträge teilen. Die verwertende Wirtschaft wird also mit ihrem 30-Prozent-Zuschuss behandelt, als ob sie Arbeitgeber unselbständiger Künstler wäre, obwohl das Gegenteil der Fall ist.

Doch wenn einer diesen Regelverstoß am wenigsten beklagen sollte, dann die Wirtschaft. Ihr unmittelbarer Anlass der Abschaffungsforderung ist sowieso nur ein schlichtes Kalkül. Seit Juli dieses Jahres werden alle einschlägigen Unternehmen des Landes daraufhin überprüft, ob sie ihrer Zahlungspflicht nachkommen. Offenkundig zahlt nur ein Bruchteil der verpflichteten Betriebe ihre Abgabe an die Künstlerkasse. Und da die Prüfer nicht nur flächendeckend vorgehen, sondern auch befugt sind, die letzten fünf Jahre einzubeziehen, kommen auf viele Unternehmen tatsächlich schmerzhafte Zahlungsforderungen zu.

Die ausgesaugte Klasse

Hätten indes die Betriebe ihrer Pflicht genügt, wäre die finanzielle Lage der Sozialkasse viel besser - sie könnte die Beiträge der Unternehmen deutlich senken! Vor allem aber verkennt die Abschaffungsforderung, dass die Wirtschaft selbst Teil des Problems ist, das sie so gerne loswerden möchte, ja sie verkennt generell die längst symbiotisch gewordene Zusammengehörigkeit von Wirtschaft und künstlerischem Schaffen.

Zum einen: So sinnvoll die Unterscheidung von angestellten und freien Künstlern und Publizisten nach wie vor ist, so scheinheilig ist sie in vielen Fällen. Natürlich entspricht es seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Selbststilisierung des Künstlers, autonom zu sein. Nicht nur autonom als Genius und Schöpfer seines Werkes, autonom auch in seiner Existenz jenseits der bürgerlichen Kultur oder gar Kulturindustrie.

Das war stets nur eine romantische Idee, aber genau als solche hat sie eine mächtige Wirkungskraft entfaltet. Ihre geradezu aggressive Rechtfertigung fand sie durchgehend bei Baudelaire, Karl Kraus, Paul Valéry bis hin zu Adorno und im herrschenden Selbstverständnis der Nachkriegszeit. Wenn Richard Sennett noch heute von der "provokativen Gegnerschaft" des Künstlers zur Gesellschaft redet, spricht er wohl noch vielen dieser Spezies aus dem Herzen.

Freie Abhängige des Systems

Trotzdem, spätestens mit der Etablierung der Massenkultur neben und anstelle der Hochkultur seit den fünfziger und sechziger Jahren ist der Abgrund zwischen abhängiger und freier künstlerischer Arbeit in den meisten Fällen eine pure Fiktion. Ob Designer, Werbetexter, Essayisten, Drehbuchautoren, Kameraleute oder Software-Entwickler angestellt sind oder nicht, berührt schwerlich den ästhetischen Rang ihrer Arbeit.

Wenn darum Zeitungen, Sender, Museen, Filmstudios immer mehr auf freie Kulturschaffende zurückgreifen, dann tun sie dies nicht, weil sie dort die genialischeren Köpfe finden, sondern weil sie damit sehr viel flexibler unterschiedliche kreative Potenzen einkaufen können und weil sie die Honorare je nach Marktlage sehr viel tiefer drücken können als bei innerbetrieblicher tariflicher Bindung.

Wenn es ihnen daher zum eigenen Vorteil gereicht, die künstlerische Potenz "outzusourcen" und erst recht ganze Kreise von Künstlern auf diese Weise von sich abhängig zu machen, ohne sie anzustellen, dann ist es ihre Forderung auf Abschaffung der Sozialkasse, die systemwidrig ist: Sie wollen die abhängigen Freien, also müssen sie auch deren Freiheitsrisiko mitfinanzieren.

Ehemals verfeindete Pole

Nun muss man die freien Künstler gewiss nicht nur bemitleiden, schließlich wählen viele die ungebundene berufliche Existenz als Schaffens- und Lebensform in vollem Bewusstsein ihrer unschönen Risiken. Abgesehen davon entsteht nach und nach eine kunstschaffende und publizistische Klientel, die nichts von der Rolle des künstlerischen "Bettlers der Neuzeit" wissen will, sondern ein neues Selbstbewusstsein der sich formierenden "creative class" ausbildet. Um sich auf dem freien Markt für kreative Leistungen durchzusetzen, entwickeln sie Sekundärtugenden der Selbstvermarktung, deren Kreativität der eigentlichen künstlerischen im Zweifel nicht nachsteht.

Zum anderen: Immer schneller ändert die Wirtschaft selbst ihren Charakter und wird in einem Maß "kulturell", das selbst viele Unternehmer noch gar nicht nachvollziehen. Nicht dass sich die Differenz von wirtschaftlicher Rationalität und ästhetischem Eigensinn verlöre. Doch seit Unternehmen nicht mehr Waren, sondern Konsumstile, Symbole und Distinktionsgewinne verkaufen, seit sie nicht mehr simple Hierarchien, sondern "Unternehmenskulturen" entwickeln, seitdem die digitale Revolution vorrangig Wissen und Kommunikationsformen prämiert - seitdem integrieren sich die beiden ehemals so verfeindeten Pole auf immer neue Weisen ineinander.

Daniel Bell hat schon vor 30 Jahren die "kulturellen Widersprüche des Kapitalismus" deshalb beklagt, weil kulturelle und ästhetische Standards angeblich bereits die Ökonomie dominieren. Ganz so weit ist es doch noch nicht, aber die Richtung der Entwicklung ist benannt. Würde sich also die Wirtschaft wirklich von ihrer Mitverantwortung für die Finanzierung des Lebensrisikos der freien Kreativen verabschieden, würde sie auf einen historischen Stand zurückfallen, aus dem sie die Kreativen längst herausgeholt haben.

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