Krimiautor Henning Mankell:Feinde der Menschheit

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Der schwedische Beststellerautor Henning Mankell ist Moralist mit Haut und Haaren - und der Kriminalroman deshalb nicht rein zufällig sein ideales Genre.

Thomas Steinfeld

Die Sonne stand schon schräg am Himmel. Sie leuchtete Henning Mankell ins Gesicht, als er neben die blaue Fahne der Vereinten Nationen trat. Flauschige weiße Wolken zogen schnell dahin, im Hintergrund war das Rauschen der Ostsee zu hören.

Krimiautor und Moralist: Hennung Mankell (Archivfoto) (Foto: Foto: ddp)

Der Schriftsteller, von dessen Werken auf der ganzen Welt mehr als dreißig Millionen Exemplare verkauft sind, hatte sich eine schwarze Krawatte umgebunden. Auf der mit Feldsteinen gepflasterten Innenfläche des kleinen Vierseithofs saßen, eng gedrängt, fast zweihundert Menschen und ließen keinen Zweifel daran, dass dieser Mann ihr Sprecher war, dass er sagte, was sie dachten oder doch gerne gedacht hätten, dass sie bei ihm waren, wenn er über das Erzählen und den Hunger, den Analphabetismus und die internationale Solidarität redete.

Viel ließ sich lernen an diesem späten Nachmittag in den Dünen von Backåkra, zwanzig Kilometer östlich von Ystad in Südschweden, über Moral und Politik und auch über den modernen Kriminalroman.

"Ich war da", sagte Henning Mankell und verbeugte sich vor Dag Hammarskjöld, dem früheren Generalsekretär der Vereinten Nationen und ehemaligen Besitzer dieses Hofes, "vor fünfundzwanzig Jahren stand ich auf der Wiese im heutigen Sambia, wo sein Flugzeug im September 1961 zerschellte." Und es war klar, dass nun ein Erbe angetreten werden sollte.

Dann erzählte Henning Mankell die Geschichte, wie er einmal in Maputo einen sehr alten Mann getroffen und wie diesem Mann der Gefährte gefehlt hatte, der tagaus, tagein neben ihm auf einer Bank im Schatten gesessen hatte und dann plötzlich gestorben war. "Und dann sagte dieser alte Mann, und ich werde es nie vergessen, und dann sagte er: 'Es ist nicht gut zu sterben, bevor man fertig erzählt hat.'"

Die Menschen in diesem Innenhof sind nicht jung, sie reisen, sehen fern, lesen Zeitungen und Bücher. Viel erzählen werden sie vermutlich nicht, schon gar nicht in größerer Runde. Das macht aber nichts. Wenn Henning Mankell das Lagerfeuer des Erzählers vor ihnen entzündet, oder genauer: Wenn er sagt, er werde es entzünden, dann sind sie ergriffen, begeistert von der Idee, eng zusammenzurücken und die Flamme der guten Gemeinschaft in sich lodern lassen zu dürfen. Das Versprechen allein ist hier Anlass zur Rührung genug.

Der weiße Mann versagte kläglich

"Ich traf einen alten Mann", so beginnen die Erzählungen, und dann geschieht etwas, das, so behauptet der Erzähler, das er sein Leben lang nicht vergessen werde. Nur scheinbar sind es viele Ereignisse, die Henning Mankell nicht vergessen kann. Tatsächlich handeln sie nur von einigen wenigen Standardsituationen der bürgerlichen Moral.

Ihr Muster sind nicht die unerhörten, überraschenden, unvergleichlichen Geschichten, wie sie Herodot oder Johann Peter Hebel vortragen, die Geschichten, die auch ihre Erzähler zuweilen ratlos zurücklassen. Ihr Muster ist die protestantische und insbesondere die freikirchliche Predigt, das erbauliche Gleichnis für die Gemeinde.

Sie zielen auf das Allgemeine und machen nur deshalb einen Umweg über das scheinbar Einzelne, damit die Botschaft umso deutlicher hervortritt, damit sie plausibel und unangreifbar wirkt. "Ich traf einmal, auf einer Insel vor Mosambik, eine alte Frau, die Führerin ihres Stammes", erzählt Henning Mankell. Er werde sie nie vergessen. Sie habe ihn aufgefordert, seine Geschichte nicht zu erzählen, sondern zu tanzen. Dabei habe er, der sinnlich unbeholfene weiße Mann, kläglich versagt.

Die Zuhörer lachen, denn diese Geschichte ist kokett. Sie erzählt davon, wie viel den Menschen des Westens noch fehlt, um wirklich eingehen zu können in die Gemeinschaft der Guten. Sie misst, aber nur zum Schein, den Abstand aus zwischen dem persönlichen Vermögen und dem Universalismus wahrer Menschlichkeit.

Denn selbstverständlich kennt sich Henning Mankell aus mit weltumspannenden Ansprüchen. Über vierhundert Jahre sei Afrika das Opfer des Kolonialismus gewesen. Er sei noch lange nicht beendet. Aber er sagt nicht, wer aus welchen Gründen ein Interesse daran habe, dass es in Manchester mehr malawische Ärzte gebe als in Malawi. Er sagt nur, dass Ärzte in Malawi besser bezahlt werden müssen.

Zur Korruption gehören immer zwei

Ferner sei der Analphabetismus etwas ganz und gar Unerträgliches. Und so recht er damit hat, so verwegen erscheint die Gegenrechnung, "wir" gäben mehr Geld für Katzen- und Hundefutter aus als die afrikanischen Staaten für das Schulwesen. Die Entwicklungshilfe überfordere die Industrieländer finanziell? Unsinn, die deutsche Wiedervereinigung sei teurer. Das Geld verschwinde in korrupten Regimes?

Zur Korruption gehörten immer zwei, ein bestechlicher Politiker und eine Firma, die besteche - Ericsson, Volvo, Siemens oder wie sie alle hießen. Und von Politikern, sagt Henning Mankell, sei nicht nur in diesen Dingen nichts zu erwarten: Sie redeten nur und redeten, versprächen nur und versprächen, und nichts komme dabei heraus. Wenn er aber in Schweden sei, vermehre sich die Berichterstattung über Mosambik um fünfzig Prozent. Da brummt das Publikum in Zufriedenheit.

Henning Mankell spricht nicht über Politik, scheinbar. Er redet über universale Werte, und deswegen hält er von Politikern ebenso wenig wie von "deformierten, niederträchtigen, verlogenen" Journalisten. In den achtziger Jahren, erzählt Henning Mankell, während des großen Bürgerkrieges, habe er einmal in Mosambik einen jungen Mann getroffen. Er trug keine Schuhe, aber weil er meinte, er müsse Schuhe tragen, habe er sich diese auf die Füße gemalt.

Die letzte, große Botschaft

Und dann erreichte die Predigt ihre letzte, große Botschaft: "Der Tag mag kommen, an dem auch ich mir Schuhe auf die Füße male. Und deswegen lehrt uns dieser junge Mann, dass wir vor allem eines brauchen: Solidarität. Denn Solidarität ist Klugheit und Intelligenz."

Die Politik kennt nur Interessen, der Journalismus nur den Verrat, Henning Mankell aber kennt nur die Moral. Und während jene den Widerspruch hinnimmt, den Kompromiss und den Ausgleich, ist diese absolut. Sie lässt keine Abweichung und keine Variation zu, sondern weiß nur vom Versagen - und an diesen Maßstäben versagen alle, denn die Macht ist nicht klug und auch nicht intelligent.

In den Dünen von Backåkra, nur ein paar hundert Meter vom ehemaligen Hof Dag Hammarskjölds entfernt, lässt Henning Mankell am Anfang seines Romans "Mittsommermord" (1997) drei junge Leute in historischen Kostümen sterben.

Die Tat wurde zwar von einem Wahnsinnigen verübt, aber das Buch endet mit der Frage, "ob nicht auch die schwedische Gesellschaft ganz und gar auseinanderbrechen könnte. An einem gewissen Punkt, wenn die Anzahl der Risse groß genug geworden war. Wie weit entfernt liegt eigentlich Bosnien?" In denselben Dünen jagt Kommissar Wallander in "Die Brandmauer" (1998) den Chinesen Fung Chu, um am Ende auf eine globale Verschwörung zu stoßen.

Überhaupt ist die räumliche und praktische Nähe zwischen der schwedischen Provinz und den Weltereignissen prägend für Henning Mankells Kriminalromane. Das liegt am Universalismus seiner Moral. Denn eine Weltanschauung, in der alles, was die Politik oder die Wirtschaft tut, als Versagen vor moralischen Ansprüchen, ja als Verrat an der Menschlichkeit interpretieren will, muss umgekehrt jedes Vergehen dagegen als Verbrechen und Verschwörung wahrnehmen.

Dummheit und Gemeinheit

Wenn Solidarität in Klugheit und Intelligenz bestehen soll, muss das einzelne Interesse Dummheit und Gemeinheit sein. Anders gesagt: Die Kriminalgeschichte ist die Form, in der sich der entfesselte Moralismus seinen Widerspruch vorstellt. Dass es dabei, auch nach den Maßstäben des Genres, ungewöhnlich grausam zugeht, insbesondere in eher friedlichen Gegenden, ist das Spiegelbild zum Absolutismus der moralischen Empörung.

Vor dem Hof von Backåkra flatterte eine zweite Fahne der Vereinten Nationen. Im Haus selber war eine Ausstellung zum Leben Dag Hammarskjölds zu sehen. Der "Frieden" sei das Lebensziel von Dag Hammarskjöld gewesen, heißt es in der Ausstellung, und im Sinne des Friedens hatte man den Schriftsteller geladen, der zugunsten von Reporter ohne Grenzen auf sein Honorar verzichtete.

Die jeweiligen Vorstellungen von "Frieden" dürften jedoch weit auseinanderliegen. Dag Hammarskjöld war kein Prediger, sondern ein Politiker gewesen. Als sein Flugzeug beim Anflug auf Ndola unter bis heute nicht geklärten Umständen abstürzte, war er zu Verhandlungen mit Moisé Tschombé verabredet gewesen, der, als Führer der abtrünnigen Provinz Katanga und mit Unterstützung des belgischen Militärs, die von den Vereinten Nationen unterstützte Zentralregierung des Kongo bekämpfte.

Umgekehrt hatten die Vereinten Nationen die USA auch dann noch unterstützt, als diese längst offensiv gegen die Regierung des gewählten Ministerpräsidenten Patrice E. Lumumba vorgingen. So verworren, so unmoralisch ist diese Geschichte aus den frühen Tagen afrikanischer Unabhängigkeit, dass sie für eine Erzählung am Lagerfeuer völlig untauglich wäre - schon gar für eine, die mit den Worten " Einmal traf ich einen alten Mann ..." begänne.

Moralischer Universalismus

Und doch ist der weltumspannende Anspruch auf Menschlichkeit nicht unpolitisch. Das erkennt man zum Beispiel daran, dass er seit acht Jahren die Welt regiert. Die "Achse des Bösen", die George W. Bush im Januar 2002 zum Gegner der Vereinigten Staaten erklärte, ist der Kriminalroman eines in die Politik eingewanderten moralischen Universalismus: Wenig mögen diese Staaten untereinander gemein haben, einig sollen sie sein als Verschwörung und Verbrechen, als Feinde der Menschheit.

Und Ban Ki Moon, der amtierende Generalsekretär der Vereinten Nationen, wird gewusst haben, was er tat, als er in der vergangenen Woche Vorbehalte gegen die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs anmeldete, den Präsidenten des Sudan wegen Völkermords anzuklagen: Denn ein Verbrecher ist kein Politiker und kein Diplomat. Mit ihm verhandelt man nicht. Man verhaftet ihn und stellt ihn vor Gericht oder bringt ihn nach Guantanamo.

Deswegen stand Henning Mankell an diesem Nachmittag im Juli eigentlich neben der falschen Fahne: Die Farben des moralischen Universalismus sehen gegenwärtig anders aus. Nur hätten die "Stars and Stripes" dem entlaufenen Linken Henning Mankell vermutlich gar nicht zugesagt.

© SZ vom 21.07.2008/aho - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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