Krimi-Kolumne:Alles brennt

Los Angeles, Frühjahr 1992. Ausnahmezustand. Gangs regeln alte Rechnungen. Ein Thriller von Ryan Gattis.

Von Nicolas Freund

Joker wurde umgelegt, mit einer Kugel direkt ins Ohr. Auf einer Party, von so einem jungen Mädchen im Kleid, geschminkt wie Kleopatra und mit einer Handtasche, in der sie die großkalibrige Pistole versteckt hatte. Zwei seiner Homeboys und ein anderes Mädchen, das zufällig im Weg stand, hat sie noch mit erledigt. Die Aktion war ein Attentat und das Mädchen, das Lupe Vera, Lupe Rodriguez, einfach Lu oder meistens Payasa genannt wird, hatte in ihrer eigenen Logik allen Grund dazu, denn nur wenige Stunden zuvor ist ihr Bruder auf offener Straße brutal hingerichtet worden. Die Gerüchte deuteten schnell auf diesen Joker als den Mörder und das Gesetz der Straßengangs von Los Angeles verlangt schnelle Rache. Deshalb wissen Payasa und ihre Gang, dass jetzt sie als nächste an der Reihe sein werden.

Was blutige Satire auf eine Vorabendserie sein könnte, ist der erste von sechs Tagen Ausnahmezustand in Los Angeles, von denen "In den Straßen die Wut" handelt. Der Roman erzählt von den Unruhen, die im Frühjahr 1992 in L. A. ausbrachen, als die vier Polizisten freigesprochen wurden, die den Afroamerikaner Rodney King misshandelt haben sollten. Es kam zu brutalen Ausschreitungen in der ganzen Stadt, und die öffentliche Ordnung brach für mehrere Tage praktisch zusammen. Mehr als fünfzig Menschen wurden ermordet, Tausende verletzt, zahllose Brandstiftungen und Plünderungen wurden begangen. Viele Gangs nutzen die Gelegenheit, um offene Rechnungen zu begleichen. Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienste waren von dem massiven Gewaltausbruch völlig überfordert, erst durch den Einsatz der Armee und die Durchsetzung einer Ausgangssperre konnte die Ordnung wiederhergestellt werden.

Krimi-Kolumne: Ryan Gattis: In den Straßen die Wut. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Rowohlt Polaris, Reinbek 2016. 526 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.

Ryan Gattis: In den Straßen die Wut. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Rowohlt Polaris, Reinbek 2016. 526 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.

(Foto: Rowohlt Polaris)

Ryan Gattis, Mitglied der Straßenkunst-Gruppe UGLAR, hatte Erfahrungen mit Gangs und Gewalt gemacht und wollte einen Roman über die Ausschreitungen schreiben, basierend auf harten Fakten. Eine ganze Reihe von Podcasts und Youtube-Videos begleitet nun im Netz das Buch, in denen Gattis von seinen akribischen Recherchen berichtet. Fast zwei Jahre führte er Interviews mit Gangmitgliedern, Polizisten, Krankenschwestern und Feuerwehrmännern, die den Ausnahmezustand 1992 erlebt hatten. Als Höhepunkt beschreibt er das verstörende Treffen mit einem Latino-Gangboss, der ihm unter anderem erklärt hat, wie eine Schießerei wirklich abläuft.

Alle sind hier in die Gewalt involviert, in allen möglichen Perspektiven

"All Involved", wie der Text im Original weniger reißerisch als in der deutschen Übersetzung heißt, war in den Vereinigten Staaten ein Überraschungserfolg. Kritiker verglichen den Roman mit der Krimiserie "The Wire", HBO hat sich bereits die Filmrechte gesichert. "All Involved" ist Slang für die Mitgliedschaft in einer Gang, aber auch LA-Feuerwehrjargon und bedeutet soviel wie "Alles brennt". Gattis selbst betont die elliptische Bedeutung, "(We are) all involved" (Wir sind alle beteiligt), denn erzählt wird der Roman aus mehr als einem Dutzend verschiedener Perspektiven, Gangmitglieder, ein Feuerwehrmann, ein Mordopfer. Jedes Kapitel ein Bewusstseinsstrom, aus dem Kopf seines Protagonisten erzählt, in seiner Sprache, hoch detailliert und konzentriert, nie stockend. Ein Sog, der den Leser und alle Figuren mitreißt in den Wahnsinn jener Tage.

Leseprobe

Einen Auszug aus dem Buch stellt der Verlag hier zur Verfügung.

Alle Figuren des Romans hängen miteinander zusammen, aber die wenigstens wissen voneinander. Oft wird die selbe Szene aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt oder man muss als Leser selbst Verbindungen herstellen, die die Figuren nicht erahnen. Jeder hängt mit drin, in diesem apokalyptischen Ausnahmezustand, der in L. A. 1992 Realität wurde. Ryan Gattis' großartiger Roman ist so komplex wie zugänglich, er wagt einen entschlossenen Blick in einen Abgrund, der sich in diesen sechs Tagen erschreckend leicht aufgetan hat.

Ryan Gattis: In den Straßen die Wut. Roman. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Rowohlt Polaris, Reinbek 2016. 526 Seiten, 16,99 Euro. E-Book 14,99 Euro.

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