Kraft der Illusionen:Europäischer Filmpreis für "Good Bye, Lenin!"

Mit sechs Preisen ist in Berlin der melancholisch-satirische Kassenschlager über den Untergang der DDR als bester europäischer Film 2003 ausgezeichnet worden. Es ist der erste Triumph einer deutschen Produktion in der 16-jährigen Geschichte des Preises.

(SZ vom 08.12.2003) - "Entschuldigung, darf man hier rauchen ...?" Es ist die Stimme von Jeanne Moreau, die aus dem Off erklingt und unmissverständlich, mit rauem Timbre, klar macht, das offensichtlich nicht keimfreie correctness wie in Hollywood diesen Abend in der Treptower Arena bestimmen würde, sondern europäische Sinnlichkeit.

Nicht nur die Stars durften also Wein, Whiskey und Canapés an gedeckten Tischen genießen, sondern alle Gäste. Ein Abschied von der strengen Klassengesellschaft, vor allem aber ein bestechend simpler Trick, um die familiäre Gemeinschaft des europäischen Kinos zu beschwören.

Eine Gemeinschaft, in der alle Platz hatten, die großen Diven und die alten Meister - Isabelle Huppert und Charlotte Rampling, der fürs Lebenswerk geehrte Claude Chabrol und der für europäische Leistung im Weltkino ausgezeichnete Kameramann Carlo di Palma - und die Jungen: 60 Studenten europäischer Filmschulen brachten kleine filmische Postkarten aus ihrer Heimat mit. Symbolisch für die Kontinuität zwischen jung und alt bekam Daniel Brühl den Musenkuss von Jeanne Moreau.

Keine Bedienungsanleitungen, sondern Hommagen

Ein Filmemacher hatte sich diesmal daran gemacht, die Geschichte des europäischen Filmjahrs 2003 zu erzählen, Wim Wenders, der Präsident der European Academy, und er weiß, dass es im Kino um Gefühle und Menschen geht. Unter seiner Regie waren Moderator Heino Ferch und seine Filme und Preise präsentierenden Kollegen erstmals mehr als Teleprompter-Sklaven - haben vielmehr das europäische Kino mit selbstverständlicher Verve und souveränem Esprit vertreten.

Da glichen die Elogen auf die Filme nicht mehr nur anonymen Klappentexten und Bedienungsanleitungen, sondern wurden zu Hommagen, die von Herzen kommen und zu Herzen gehen, von Leuten, denen man abnimmt, dass sie die Filme auch tatsächlich gesehen haben. Auch die Filme selbst wurden endlich ernst genommen - so ließ sich das neue Team nicht mit den Brocken abfinden, die Produzenten hergeben, sondern kämpfte um Szenen, die auch denen, die die Filme nicht gesehen haben, etwas von ihrer Kraft vermitteln können.

Preis für Charlotte Rampling

Ein bemerkenswerter Neubeginn also mit dem wizard Wenders. Zu dem dann der Triumph von "Good Bye, Lenin!" kam - ein Pendant gewissermaßen zum Oscar-Erfolg für Caroline Links "Nirgendwo in Afrika" im Frühjahr. Man muss abwarten, ob die Abräumaktion beim Europäischen Filmpreis sich als produktiv erweisen wird, wenn "Lenin" sich Anfang kommenden Jahres bei der nächsten Oscar-Nominierung bewähren muss.

Wolfgang Beckers Film wurde Europas bester Film des Jahres, außerdem wurden Drehbuchautor Bernd Lichtenberg und Hauptdarsteller Daniel Brühl ausgezeichnet. Seine mütterliche Partnerin Katrin Saß musste sich Charlotte Rampling geschlagen geben, in "Swimming Pool". Dafür gab es dann die Publikumspreise für Saß, Brühl, Becker.

Rückgriff auf das bewährte enfant terrible Lars von Trier

Der Erfolg für "Lenin" setzt immerhin einen Trend fort, den man seit einigen Jahren beobachten kann. Der Europäische Filmpreis begann in den Neunzigern mit der Würdigung sozialkritischer Filmen - Gianni Aurelio und Ken Loach wurden mehrfach bedacht - und hat sich erst in den letzten Jahren dem Melodramatisch-Komödiantischen geöffnet, mit Pedro Almodóvar oder Jean-Pierre Jeunets "Amélie".

Der "Lenin" steht, als schöne Selbstbeschwörung des Kinos und der Kraft seiner Illusionen - Daniel Brühl wird seiner Mutter gegenüber zum Stellvertreter aller Kinomagier -, in dieser Tradition, aber er erreicht nicht die individuelle Kraft seiner Vorgänger. Und die viel beschworene internationale Erstarkung des deutschen Kinos garantiert er natürlich nicht. Für den besten europäischen Regisseur griff man immerhin auf das bewährte enfant terrible Lars von Trier, der mit "Dogville" nominiert war, zurück.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: