Konzert:Die unbekannte Mademoiselle

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Berühmt wurde Nadia Boulanger vor allem als Kompositionslehrerin. Sie unterrichtete etwa Aaron Copland, Krzysztof Penderecki und Michel Legrand. (Foto: Centre Nadia et Lili Boulanger)

Organistin, Dirigentin, Musikologin, Pädagogin - Nadia Boulanger hatte viele Fähigkeiten. Nur von ihren Kompositionen hielt sie nicht allzu viel. Jetzt werden alle ihre Lieder aufgeführt

Von Klaus Kalchschmid

Die junge Rachael Wilson singt auf der Probe mit leidenschaftlichem Mezzo und enormer Intensität vom Trunkenbold, der im Klaviersatz unüberhörbar schwankend einer Frau den Rest seiner Seele um die ihrige gegeben hat. Und von dem Messer, das ein verschmähter Liebhaber nicht aus seiner Brust ziehen kann, weil er lieber leidet, als die Angebetete zu vergessen. Diese Lieder, die 1921 von einer 34-Jährigen geschrieben worden sind, besitzen große Kraft und enormen Nachdruck.

Die beiden Vertonungen von Gedichten der Camille Mauclair sind Teil einer Gesamtaufführung aller 26 Lieder von Nadia Boulanger, die schon in deren Entstehungszeit eine berühmte Lehrerin war und das bis zu ihrem Tod 1979, im Alter von 91 Jahren, bleiben sollte. 1921 hatte sie begonnen, an der Ecole d'art américaines in Fontainebleau zu unterrichten, die sie ab 1950, zurückgekehrt aus dem Exil in den USA, auch leiten sollte. Pianisten wie Dinu Lipatti, Idel Biret und Daniel Barenboim waren ihre Schüler, aber auch Komponisten wie Elliot Carter, Aaron Copland, Krzysztof Penderecki oder Michel Legrand. Sie selbst aber verstand sich nicht als wirklich schöpferisch: "Ich habe mit 20 eingesehen, dass ich keine Komponistin bin. Die Musik, die ich geschrieben habe, gehört zu dem, was ich nutzlos nenne. Nicht einmal schlecht, weil ich die Kunst verstand, aber dieses Kapitel ist von keinem Interesse", sagt Nadia Boulanger am Ende von Bruno Monsaingeons aufschlussreichem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1977, der so heißt, wie Nadia Boulanger stets genannt werden wollte: "Mademoiselle".

Das müssen wir nicht für bare Münze nehmen, im Gegenteil. Aber es ist der Grund, warum zwölf frühe, im "Centre international Nadia et Lili Boulanger" in Paris als Manuskript aufbewahrte Lieder 100 Jahre lang nicht zu Edition und Aufführung freigegeben worden sind. Erst jetzt durften sie Tenor Donald George zusammen mit dem Pianisten Donald Sulzen, Dozent für Liedgestaltung an der Münchner Musikhochschule, transkribieren und für eine Aufführung innerhalb eines Fakultätskonzerts einstudieren. Neben Rachael Wilson von der Bayerischen Staatsoper wird die Sopranistin und Hochschullehrerin Christiane Iven ein Drittel der Lieder übernehmen.

Nadia und ihre jüngere, bereits 1918 im Alter von 24 Jahren gestorbene Schwester Lili Boulanger werden immer in einem Atemzug genannt. Das Verhältnis der beiden war in jeder Hinsicht eng und bemerkenswert. Doch so ähnlich sie sich als Mädchen im Aussehen waren, so unterschiedlich waren sie von jeher in Charakter und Auftreten. Nach dem Tod des Vaters musste die sechs Jahre Ältere bereits mit zwölf die Verantwortung für die kleinere Schwester übernehmen und zum Auskommen der Familie beitragen, weshalb sich Nadia mit 17 darauf konzentrierte, Unterricht zu geben. Beim Prix de Rome 1908 errang sie "nur" den zweiten, ihre Schwester dagegen 1913 den ersten Preis, wie davor schon ihr Vater - 1835, mit gerade mal 19 Jahren. Anders als Lili, die geniale Komponistin, war Nadia das musikalische Universaltalent. Sie debütierte 1912 erfolgreich als Dirigentin, spielte virtuos Orgel, war in beiden Disziplinen auf ausgedehnten Konzertreisen, aber zugleich eine begnadete Musiktheoretikerin und -Analytikerin.

Nadia Boulangers erstes Lied nach Victor Hugos "Exstase" ist auf den 16. Dezember 1909 datiert, da war sie gerade mal 13 Jahre jung; 20 Jahre später komponierte sie ihr letztes Lied: "J'ai frappé", das von einem lyrischen Ich handelt, dessen Hand, Stirn und Herz vergeblich an geschlossene Türen klopfen und das nur Antwort von sich selbst erhält. Dazwischen liegen 24 Lieder, die anfangs noch den Einfluss von Debussy und Fauré aufweisen, später eine zunehmend eigene, die Grenzen der Tonalität an den Rändern beanspruchende Sprache sprechen. Viermal vertonte Boulanger Verlaine, dreimal Heine (auf Deutsch), zweimal Materlinck, zuletzt fünfmal besagte Camille Mauclair.

Mit dem 35 Jahre älteren Raoul Pugno trat sie als Lied-Duo auf, komponierte mit ihm die Oper "La ville morte" und den Liederzyklus "Les heures claries". Das überschwängliche Liebeslied "C'était en juin" daraus wird den Abend mit den Liedern von Nadia Boulanger heiter beschließen.

Nadia Boulanger : Sämtliche Lieder; Di, 1. Dez., 19 Uhr, Hochschule für Musik und Theater, Arcisstraße, Eintritt frei

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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