Konsequenz der Monokulturen:Überall Gülle

Und die Welt ward Fleisch: Ein Ökologe klagt die Landwirtschafts-Industrie an - Massen von Tieren, die für den Verzehr gedacht sind, machen unsere Natur zur biologischen Wüste.

CHRISTIAN SCHÜTZE

Sie sind lila oder glücklich, verrückt oder heilig, vor allem sind sie schwer. Alle Kühe zusammen auf unserem Planeten wiegen dreimal so viel wie alle Menschen zusammen; sie richten größeren ökologischen Schaden an als Industrie und Autoverkehr. Die Menschheit leistet sich einen Viehbestand, der am Globus mehr nagt, als allgemein bekannt ist. Josef H. Reichholf, Leiter der Wirbeltierabteilung der Zoologischen Staatssammlung in München, ein militanter Ökologe, schreibt gegen diese Ignoranz an.

Anders als der Buchtitel meint, werden Rinder -- abgesehen von Indiens heiligen Kühen, zwölf Prozent des Weltbestandes -- nicht verehrt, sondern verzehrt. Menschen gieren nach Fleisch, eine Leidenschaft des weltweit wachsenden unteren Mittelstandes. Wer südamerikanische Rindfleischorgien oder den US-Kult mit dem T-Bone-Steak kennt, weiß, wovon die Rede ist . Der Untertitel "Ökokolonialismus Europas" sagt: Europa importiert Mastfutter, das auf abgebrannten Regenwaldflächen wächst. In Tierfabriken wird es auf brutale Weise zu Fleisch und Milch "veredelt", wobei eine von den Verbrauchern subventionierte "Landwirtschaft" die Flur mit Gülle vergiftet, während die Fleischüberschüsse exportiert werden.

Das ist nicht neu für den, dessen Horizont über die Fleischtheke hinausreicht. Neu ist die Datenmenge, mit der Reichholf die Perversionen belegt. Er lässt Zahlen sprechen, denn Ökologie ist keine Weltanschauung, sondern eine Naturwissenschaft, die wiegt und rechnet. Meinung kommt später. In Deutschland leben auf 357 000 Quadratkilometern Landesfläche 42,5 Millionen Huftiere (15,7 Millionen Rinder, 23,7 Millionen Schweine, dazu Schafe und Pferde). Das sind 75 Tonnen pro Quadratkilometer, 70 Tonnen mehr als der natürliche Bestand an Huftieren im fruchtbarsten Ökosystem der Erde, der Serengeti in Ostafrika. Die 230 Menschen pro Quadratkilometer Deutschland wiegen dagegen nur 15 Tonnen, ein Drittel vom Rindergewicht. Das Land wurde vom ökologischen zum ökonomischen System.

Auch das ist nicht neu -- wir sind ein Industriestaat. Aber auch die Landwirtschaft wurde industrialisiert, womit die ökologische Verwüstung bei uns und in anderen Erdteilen begann. Nach Reichholf könnten wir besseres Rindfleisch direkt von den frei lebenden Herden der nord- und südamerikanischen Grassteppen beziehen. Unsere Felder, Wiesen und Wälder wären nicht bis ins Grundwasser mit Stickstoff durchtränkt, die Wolken von Ammoniak und riesige Mengen des hoch wirksamen Klimagases Methan aus den Massenställen blieben dem Land und der Atmosphäre erspart. Im niedersächsischen Landkreis Vechta -- dem Paradebeispiel -- vegetieren auf 570 Quadratkilometern mehr als eine Million Rinder, Schweine und Schafe, dazu 12,7 Millionen Hühner, und auf der übrigen Fläche 124 000 Menschen -- ein Gewichtsverhältnis der Tiere zu den Menschen von 50 zu eins. Die Folge: "Nach 'Einwohnergleichwerten' an Abwasser ist Vechta eine Weltstadt von der Größe Berlins". Dafür ist der Landkreis Vechta im Vergleich zu Berlin fast eine Wüste, wenn es um biologische Vielfalt geht. Die Vorstellung vom verderbten Moloch Stadt und dem gesunden Land gilt nicht mehr.

Reichholf kritisiert seinen ansonsten geschätzten Lehrer Konrad Lorenz, der noch von der "heilen Welt des dörflichen Milieus" schrieb. Wild lebende Tiere und Pflanzen wissen es besser. In seinem Heimatdorf Aigen am Inn (1000 Einwohner) hat Reichholf Ende des vergangenen Jahrhunderts 31 Brutvogelarten gezählt, in Regensburg (130 000 Einwohner) 98 Arten, in München (1,2 Mio. Einwohner) 111 Arten, in Berlin (3,6 Mio. Einwohner) 141 Arten. Ähnlich ist es mit Schmetterlingen und vielen Wildpflanzen. Die Vielfalt des Lebens hat sich auf städtische Friedhöfe zurückgezogen, in Stadtparks und vor allem in Außenbezirke mit offener Bauweise, in Gärten und Laubenkolonien. "Die großen Verarmungsgebiete an Arten in Deutschland", so Reichholf, seien die "freien, offenen Agrarlandschaften . . ., Flächen, auf denen es keine Dörfer gibt".

Reichholf sieht Misserfolge im Umweltschutz wegen mangelhafter ökologisch-wissenschaftlicher Durchdringung der Probleme und falscher Akzentsetzung. Er misst Aufwand und Ertrag und konstatiert: Ökologisch betrachtet, ist "sauberer" noch lange nicht "besser". Und er widerspricht lieb gewordenen Unheilsszenarien, die vom wahren Brandherd ablenken. Dabei ist er weit entfernt vom modischen Ökopositivismus einiger Autoren, die gemerkt haben, dass man mit (falscher) Entwarnung Bestseller schreiben kann.

Der Ökologe denkt in Zusammenhängen: Auf überdüngten Böden wachsen manche Pflanzen, wie Löwenzahn, im Frühjahr schnell und dicht; Arten, die Stickstoff weniger mögen, werden verdrängt. Das Kleinklima, einst warm und trocken, wird kühl und feucht, die Sonnenwärme wird zur Verdunstung des Wassers aufgebraucht. Küken von Fasanen und Rebhühnern finden zu wenig Insekten als Nahrung. Junge Hasen können nicht trocknen, sie drängen an die wärmeren Straßenränder. Da glaubt der Jäger, es gebe viele. Die "Erlegungsstrecken" des Verkehrs sagen die Wahrheit: Wurden in Südbayern 1980 noch 70 Hasen per 100 Kilometer überfahren, waren es 1998 noch 20, trotz Vermehrung der Autos.

Für solche Ursachenketten bietet dieses an Informationen und Zahlen überreiche Buch viele Beispiele. Es ist ein wahres Lehrbuch der Ökologie, ohne es sein zu wollen. Es enthüllt -- und quantifiziert -- vor allem den enormen Beitrag der Landwirtschaft, zumal der Rinderzucht, zur Umweltzerstörung und Klimaerwärmung, ein Beitrag, der aus politischen und ideologischen Gründen (böse Stadt, gutes Land) lange tabu war. Nachdem die Umweltverbände die Aufklärung gegen die Lebenslüge "Der Bauer ist der beste Naturschützer" eröffnet haben, wagt sich in jüngster Zeit auch die Politik an das Thema. Die Datenbasis für die notwendige Auseinandersetzung hat Reichholf bereitet.

JOSEF H. REICHHOLF: Der Tanz um das goldene Kalb. Der Ökokolonialismus Europas. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2004. 217 Seiten, 19,50 Euro.

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