Kolumne: Deutscher Alltag:Rock 'n' Rollator

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Heute, 40 Jahre nach Jim Morrison, hat man die Luftgitarre beiseite gestellt und überlegt, wie viel Krankenkassenbeitrag man auf die mit 65 auszahlbare Lebensversicherung zu leisten hat.

Kurt Kister

In einem bestimmten Alter glaubt man, dass alle Menschen um einen herum plötzlich 50 werden. Dann verstreichen noch ein paar Jahre, und an manchem Morgen weiß man nicht, ob der Gräuling, der einen aus dem Spiegel heraus anblickt, nur die in das glatte Glas eingesperrte Seele eines fremden Bindegewebsschwachen ist oder ob es sich wirklich um das eigene Abbild handelt. Die Zeit, in der man sich diese und andere existentielle Fragen stellen muss - gibt es Hosen, die den Bauch so aussehen lassen können, als habe man noch eine Taille? - ist auch die Zeit, in der immer mehr Bekannte in Rente gehen.

Jim Morrison ist kein Rentner

Rente. Wie kann das sein? Hat man nicht eben noch Hey Joe gehört und dazu Luftgitarre gespielt? Sicher, Jimi Hendrix ist schon länger tot als Jim Morrison, aber dass beide vor mehr als vierzig Jahren ihre größten Zeiten gehabt haben sollen, kann eigentlich nur ein Fehler von Wikipedia sein, denn bekanntlich ist die Intelligenz des Schwarmes lediglich die Summe aus der Dummheit vieler Einzelner. Und selbst wenn es stimmen sollte, dass auch Jim Morrison in diesem Jahr 67 würde, lebte er denn noch, dann heißt das nichts anderes, als dass er auf ewig 27 bleiben wird, weil er mit 27 Jahren am 3. Juli 1971 in Paris gestorben ist. Es gibt keinen alten Jim Morrison, keinen Rentner.

Es kann also mit Fug und Recht angenommen werden, dass das Älterwerden eine Frage der Wahrnehmung ist. Wer auch mit 62 noch L.A.Woman hört, der ist, abgesehen von der fehlenden Bandscheibe und dem Hüftproblem, fast noch so, wie er mit 22 war. Mit 22 hatte man sogar noch weniger Geld, als man nach der Verrentung haben wird. Man war trotzdem glücklich, unter anderem auch, weil alles, was man an Weisheit brauchte, die Doors lieferten und alles, was man an Liebe begehrte, in dem noch unbekannten Land Leben erjagbar zu sein schien.

Heute, 40 Jahre später, liegt das unbekannte Land nicht mehr vor einem. Man hat es durchmessen und strebt nun jenen Gefilden zu, in denen eine Rolle spielt, wie viel Krankenkassenbeitrag man auf die mit 65 auszahlbare Lebensversicherung zu leisten hat. Der Freund und Kollege äußert sich beim Mittagessen lobend über die Organisation der Rentenstelle am Viktualienmarkt.

Am Telefon meldet sich einer von früher, der einst die Haare lang trug, und sagt, er höre im Oktober ganz auf. Man plaudert ein wenig, und spricht über die Beobachtung, dass unter den Spätfünfzigern und Rentenanwärtern das Duzen sehr verbreitet ist. Der einst Langhaarige meint, vielleicht hänge das ja auch damit zusammen, dass man, ohne es selbst zu merken, irgendwann in jenes Alter gerät, in dem einen jüngere Kollegen nicht mehr duzen - sei es aus Respekt oder aus Mitleid. Allerdings kennen jüngere Kollegen auch Jim Morrison nicht mehr.

© SZ vom 25.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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