Kolumne: Deutscher Alltag:Bonn will dies, Bonn will das

Vor zehn Jahren zog die Regierung nach Berlin. Immer noch trifft man rund um den Reichstag Menschen, denen der Bahnübergang in der Bonner Südstadt oder der Kiosk am Bundesrat nicht Hekuba sind.

Kurt Kister

Manchmal bricht das Gestern unversehens ins Heute ein. Wenn man genau hinsieht, stellt man sogar fest, dass es eigentlich das Vorgestern ist. Letzte Woche kam man bei einem Berlinbesuch mit einem Kollegen ins Reden. "Vermissen Sie eigentlich Berlin?", fragte der. Kann man eine Stadt vermissen, in die es einen beruflich verschlagen hatte, die man vor Jahren verlassen hat, nachdem man knapp zwei Legislaturperioden dort verbrachte? Man gab die Antwort, die man schon oft gegeben hat. "Na ja, vermissen? Ich weiß nicht. Aber hin und wieder ist es so, dass ich das Gefühl habe, in München gibt es keine einzige dieser interessanten Veranstaltungen, die ich in Berlin nie besucht habe."

Kolumne: Deutscher Alltag: "Vermissen Sie eigentlich Bonn?"

"Vermissen Sie eigentlich Bonn?"

(Foto: Foto: ap)

Am Abend Fernsehen im Hotel. Es gab einen Bericht darüber, dass in Bonn die Konstituierung des ersten Bundestages vor 60 Jahren gefeiert wurde. In Bonn. "BONN", sagte man laut. Es klang nach. Jahr um Jahr hatte man sich so sehr daran gewöhnt, BONN andauernd in den Nachrichten und in der Tagesschau, aus dem Autoradio und in vielen Gesprächen zu hören. "Bonn" war allgegenwärtig, Bonn wollte dies oder das, Bonn protestierte und Bonn bekräftigte.

Jetzt ist Bonn weg. Natürlich ist es nicht ganz weg, die Stadt gibt es noch. Wirtschaftlich soll es ihr gut gehen, heißt es. Etwas Bundesregierung ist auch immer noch in Bonn, ungefähr so, wie auch noch etwas DDR in Berlin ist, zum Beispiel in Friedrichshain.

Zehn Jahre ist es jetzt her, dass die Regierung nebst ihren Hintersassen von Bonn nach Berlin ging. Doch, man trifft unter der politischen Käseglocke rund um den Reichstag immer noch Menschen, denen der Bahnübergang in der Bonner Südstadt oder der Kiosk am Bundesrat nicht Hekuba sind. In Wirklichkeit aber ist Bonn in Berlin längst zur Folklore geworden. Der Tourist guckt sich das Brandenburger Tor an, die East Side Gallery, die er für die Mauer hält, und dann trinkt er ein Kölsch in der Ständigen Vertretung. Das ist eine Kneipe am Schiffbauerdamm in Mitte, wo sich vor zehn Jahren die alten Bonner zusammenfanden, bevor sie später das Siebengebirge verrieten und sich in Kleinmachnow oder am Müritzsee Häuschen kauften. Potsdam ist den Polit-Emigranten das geworden, was ihnen einst Godesberg war.

Natürlich ist das überhaupt nicht verwerflich, sondern entspricht dem Lauf der Welt. Die Geschichte hat Bonn zwar peripherisiert. Aber am Rande lebt sich's gar nicht schlecht, was man auch am südlich randständigen München sieht.

Als der Fernsehbericht über 60 Jahre Bundestag vorbei war, blickte man in den Spiegel. "BONN", sagte man noch mal sehr entschieden. Und dann fragte man den Kerl, der einem aus dem Spiegel entgegenblickte: "Vermissen Sie eigentlich Bonn?"

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