Kolumne: Deutscher Alltag:Atlantis im Feuersturm

Wer gerade nach München ziehen will, der sei gewarnt. Seit Monaten regnet es hier nur noch. Da denkt man mal wieder über Schwertadel und Baltendeutsche nach.

Kurt Kister

Neulich war ein Herr zu Besuch, dessen Lebensleistung den deutlich Jüngeren aus Respekt zögern lässt, ihn einen Freund zu nennen. Er wurde geboren, als noch Hindenburg Reichspräsident war und hat - mal als Akteur, mal als Beobachter - vieles erlebt, was in West- und Ostdeutschland als wichtig galt.

Kolumne: Deutscher Alltag: Wusste, dass nur wahrer Schwertadel Eindruck macht: der Hauptmann von Köpenick, hier dargestellt von Heinz Rühmann.

Wusste, dass nur wahrer Schwertadel Eindruck macht: der Hauptmann von Köpenick, hier dargestellt von Heinz Rühmann.

(Foto: Foto: dpa)

Man saß also am Abend beim Wein und redete über solche, die schon tot sind, solche, die noch leben, und auch solche, von denen man es gar nicht so genau wissen will. Zur Sprache kam auch ein alter Botschafter, ein Baron oder gar Graf. Der Besucher charakterisierte ihn als "typischen Baltendeutschen". Ja, ja, wahrscheinlich alter Schwertadel, wurde noch ergänzt. Dann wandte man sich anderen Sujets zu.

Als der Abend zur Neige ging, spannte man den Schirm auf und trat in den Münchner Regen. Wer sich vielleicht gerade überlegt, nach München zu ziehen, der sei gewarnt. Seit Monaten regnet es hier nur noch, was bestimmt auch damit zusammenhängt, dass der Ministerpräsident Seehofer so spricht und handelt, als sei er eine Mischung aus Silvio Berlusconi und Frank Bsirske.

Jedenfalls ist Seehofer gerade 60 geworden, und damit nach seinen eigenen, noch 2008 an diversen CSU-Ministern exekutierten Maßstäben reif für den Vorruhestand. Viele Bayern, allen voran Söder und Guttenberg, würden sich dankbar zeigen, wenn Seehofer so verschwände, wie er vor Jahresfrist etwa die Senior-Minister Miller, Stewens und Goppel verschwinden ließ.

Allerdings soll man das Alter nicht erst respektieren, wenn man selbst alt wird. Beim nächtlichen Gang durch das nasse München stiegen Gedanken auf, als man den lebenserfahrenen Gast an seinem Hotel abgeliefert hatte. Schwertadel, Baltendeutsche - dies sind Begriffe, die zurückweisen in eine Welt, die es so heute nicht mehr gibt. Sie ist untergegangen, erst im Feuersturm deutscher Hybris, und nun verschwindet sie mehr und mehr in jenem Vergessen, das sich ausbreitet, wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, persönliche Erfahrungen zu machen. Was dem Achtzigjährigen noch vorgestern gewesen zu sein scheint, kann schon für den Vierzigjährigen versunken sein wie Atlantis.

Nun hat mancher Angehörige der BRD-DDR-Zwischengeneration all die Chronisten von Atlantis im Bücherregal stehen: Günter Grass, Siegfried Lenz, Alfred Andersch, Heinrich Böll. Sie befinden sich, so sie nicht schon gestorben sind, in ihrem neunten Lebensjahrzehnt. "Heimatmuseum" oder "Winterspelt" erzählen Geschichten aus dem vergangenen Jahrhundert, aus jener Zeit, in der Flüchtlinge nicht Migranten hießen und aus Ostpreußen, nicht aber aus Somalia stammten. Vielleicht sollte man, zumal weil es dauernd regnet, wenigstens mal wieder "Katz und Maus" lesen.

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