Kochroman: "Wovon wir lebten":Rotaugen im Speckmantel

Kochroman: "Wovon wir lebten": In einem hippen Banker-Restaurant erfindet Silke Scheuermanns Held bizarre Speisen.

In einem hippen Banker-Restaurant erfindet Silke Scheuermanns Held bizarre Speisen.

(Foto: Regina Schmeken)

Dealer, Knast, Therapie, Luxus-Chefkoch... Silke Scheuermann lässt in ihrem neuen Roman einen Mann erzählen, "wovon wir lebten". Eine wichtige Quelle: Großmutters Seligenstädter Klosterkochbuch.

Von Helmut Böttiger

Kochen hilft. Sex allein bringt's auf die Dauer nicht, und Gewalt führt eh nicht weiter. Das ist etwas, das Marten Wolf mühsam lernen muss. Die Autorin Silke Scheuermann bringt ihn in Ich-Form zum Sprechen, und das ist ein gewisses Wagnis: Er lässt ziemlich die Sau raus, stammt aus prekären Familienverhältnissen, macht schon als 12-Jähriger Botendienste für einen Drogendealer, arbeitet als Chemiewerker in Höchst, stürzt bald ab, landet im Knast und in der Therapie. Und da endlich kommt er zum Kochen und wird Küchenchef. Die Autorin greift mit dieser Figur tief nach unten in soziale Schichten, ins kriminelle Milieu, mit Schlägertrupps und Hell's Angels, bevor sie zu Kunst und Sinnlichkeit durchstößt.

Marten Wolf ist die zentrale Figur in diesem Roman, aber fast ganz zum Schluss wird deutlich, dass es neben ihm noch eine weitere heimliche Hauptdarstellerin gibt, einen ästhetischen Mittelpunkt. Mit der aufreizenden Jenna, die sich ausschließlich über Sex zu definieren scheint, ständig Joints dreht und Kokslinien zieht, erlebt Marten seine rauschhafteste und kaputteste Phase. Als er merkt, dass sie ihm hörig ist, nutzt er das radikal aus. Dann verlässt er sie, aber gegen Ende der Handlung taucht sie plötzlich in einer Fernseh-Talkshow auf: Marten ist verblüfft, dass sie es tatsächlich geschafft hat, den Roman zu schreiben, den sie ihm immer angedroht hat. Eine "forsch dreinblickende Literaturwissenschaftlerin" findet es psychologisch ungeheuer reizvoll, dass sie den "Kunstgriff" angewendet habe, "die Perspektive des Mannes einzunehmen", diese Fähigkeit zur "Empathie". Ohne diese Volte wäre das Buch "nur ein weiteres Machwerk der Betroffenheitsliteratur".

Das klingt nach einer ironischen Finte. Silke Scheuermann legt Fäden und Fallstricke aus, gibt den Blick auf doppelte Böden frei. Und ihr Personengeflecht ist tatsächlich raffinierter, als es im ersten Moment scheint. Am schwächsten sind die ersten Kapitel, die plakativen Schilderungen des spießigen autoritären Vaters und der alkoholkranken Mutter - da bleiben keine Fragen offen, und Marten kriegt zwangsläufig psychische Macken ab. Da er selbst seine Erfahrungen und Entwicklungen darstellt, wirkt das manchmal ziemlich aufgesetzt; er muss viel erklären und referieren. Und als er in der Zeit mit der ersten Freundin aus Eifersucht einen Schwächling namens Fips zusammenschlägt, nimmt das arg kolportagehafte Züge an.

Die Szenen in der Kneipe "Beim Schorsch" sind veritabler Familie-Hesselbach-Slapstick

Die Geschehnisse spielen in Offenbach und Frankfurt, da entstehen auch vereinzelt Milieustudien und Personenskizzen, die den Genius Loci auf den Punkt bringen. Wie sich die Figuren entwickeln, ist zum Teil verblüffend: Martens Jugendfreund Micha, der am Anfang viel besser Bescheid weiß, aber sich dann in ein vermeintliches Familienidyll zurückzieht, oder der Boxtrainer Rainer, der sich vom lausigen Underdog zu einem vielschichtigen Charakter mausert. Von langer Hand vorbereitet ist aber vor allem die Beziehung Martens zu Stella, der Komplementärfigur zur zwiespältig schnelllebigen Jenna. Bereits als 12-Jähriger erliegt Marten ihrer merkwürdigen Ausstrahlung, dem zickigen, spröden Charme der Upperclass. Als er nach dem Gefängnis (wegen Körperverletzung) in die psychotherapeutische Klinik kommt, trifft er sie wieder, als magersüchtige Kunstbesessene. Aber erst, als Marten zum Chefkoch eines Edelrestaurants wird, werden die beiden ein Paar, ein Gegenentwurf zu Martens bisheriger Biografie - das ist, von einigen Reflexionen Martens über Liebe und den Sinn des Lebens abgesehen, durchaus suggestiv beschrieben.

Eine geheime Quelle Martens ist das Kochbuch seiner Mutter, einer Alkoholikerin mit großen sinnlichen Qualitäten. Aus "Großmutters Seligenstädter Klosterkochbuch" kocht die Mutter etwa "Rotaugen im Speckmantel", die sie "immer mit Spitzkohlgemüse" servierte, und als Martens Lieblingsdessert "Pfirsichhälften mit Rosmarinreis". Da ist etwas angelegt, und als Marten in der Therapie Peter kennenlernt, der gastronomische Erfahrung hat, wird der Roman lebendig. Dass sie eine Kneipe im Frankfurter Ostend übernehmen, die "Beim Schorsch" heißt, entwickelt sich im komplizierten, volkstümlich-taktischen Verkaufsgespräch zu einem veritablen Familie-Hesselbach-Slapstick.

Marten erfindet im Folgenden als Autodidakt in dem nun rasant aufsteigenden hippen Banker-Restaurant namens "Happy Rabbit" Gerichte wie "Pfeffer-Thunfisch auf Glasnudel-Krautsalat" oder Salate mit "Löwenzahn-Rucola und karamellisierten Petersilienwurzeln". Ein liebevoll-satirischer Seitenhieb gilt dem real existierenden FAZ-Restaurant-Kritiker Jürgen Dollase. Von ihm wird eine Passage zitiert, in der er der "weit gedachten Dekonstruktion" eines "Borschtsch in Textur" das Wort redet. Marten kocht, und seine große Lebensliebe Stella malt - da verschmelzen Kunst und Leben wie im Bilderbuch.

Wenn eine Autorin eine männliche Hauptfigur sprechen lässt, entsteht ein Spielraum

Die Stärken und Schwächen dieses Romans liegen nahe beieinander, und sie haben viel mit Sehnsucht zu tun. Das unterscheidet Silke Scheuermann von einer Schriftstellerin wie Juli Zeh, die schlechter schreibt, aber kalkulierter konstruiert. Dass Scheuermann als weibliche Autorin einen männlichen Hauptdarsteller sprechen lässt und mit zwei gegensätzlichen Frauenfiguren kontrastiert, gibt ihr unerwartete Freiheiten. Sie spielt lustvoll mit Verschiebungen. Aber ob sie die Regisseurin dieses Spiels bleibt, ist die Frage. "In jedem verdammten Drehbuch würde das rausfliegen", konstatiert Marten einmal. Es gibt viel Gefühl, und manchmal zu viel Melodram. Der Showdown mit Stella und Marten in Rom und einem parallel dazu stattfindenden Großevent im Frankfurter Restaurant ist effektvoll in Szene gesetzt. Und dass Marten mit Stella endlich glücklich wird, wirkt wie eine Utopie. Sie kann auf jeden Fall verfilmt werden.

Silke Scheuermann: Wovon wir lebten. Roman. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2016. 528 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.

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