Klima und Moral:Wer lebt, stört

Wird Klimaschutz zur neuen Religion? Mit wachsendem Umweltbewusstsein erscheint menschliches Verhalten generell als Fehler - der CO2-Ausstoß wird zum Maß aller Dinge. So punktet etwa Hillary Clinton mit karbonneutralem Wahlkampf.

Jean-Michel Berg

Seit mit dem UN-Klimabericht Anfang diesen Jahres die Erderwärmung vom grünen Nischenthema zum gipfeltauglichen Politikevent avanciert ist, ist die Umwelt zum allgemeinen Diskurs geworden. Nun findet eine Neuvermessung des menschlichen Lebens statt.

Hillary Clinton will einen karbonneutralen Wahlkampf führen

Druck und Druckablass: Hillary Clinton verspricht einen karbonneutralen Wahlkampf.

(Foto: Foto: Reuters)

CO2 gilt mit etwa 60 Prozent als Hauptverursacher der Erderwärmung. CO2 hat den wenig rühmlichen Standardwert "Treibhauspotential 1" erlangt. Jedes andere Gas wird mittlerweile in diese Größe umgerechnet. Methan trägt mehr als zwanzig mal so stark zur Erderwärmung bei, Lachgas gar 310 mal. Vergessen scheint, dass kaum ein Laie beurteilen kann, wie stark etwa eine Tonne CO2 zur Erderwärmung beiträgt. Dabei sind es gerade die Konsumenten und Bürger, die mäßigend auf den Klimadiskurs einwirken sollen.

Doch es wird so selbstverständlich mit abstrakten Werten jongliert, zwischen Flugzeugemission, Aufforstung und Windrad hin- und hergerechnet, dass man seine Abstraktheit mittlerweile vergessen hat. Der CO2- Wert hat sich verselbstständigt. Er ist zu einem Wechsel auf die Klimakatastrophe geworden, allerdings mit unbekanntem Wechselkurs.

Geänderte Grenzverläufe

Eine seltene Allianz von Politik, NGOs, Medien und Wirtschaft hat in den letzten Monaten so ziemlich jede menschliche Lebensäußerung auf den Prüfstand gestellt und in CO2 umgerechnet. CO2- Rechner, an denen jeder seinen persönlichen "CO2-Fußabdruck" errechnen kann, haben Hochkonjunktur. Man findet sie auf der Internetseite des Bayerischen Innenministeriums, bei Greenpeace, ja selbst beim Ölkonzern BP.

Wie viel CO2 verbraucht die elektrische Zahnbürste gegenüber der manuellen (94,5g zu 0g), wie viel der Radiowecker gegenüber dem Aufziehwecker (22,26g zu 0g)? Essgewohnheiten und Reiserouten werden unter die Lupe genommen, herkömmliche Glühbirnen verteufelt und Duschköpfe angeprangert.

Schleichend ist die Umweltfrage damit in einen Bereich vorgedrungen, den man als paradiesischen Zustand der Klima-Unschuld betrachten kann. Bislang schien es einen begrenzten Bereich umweltschädlichen Verhaltens zu geben, etwa Auto, Flugzeug, Müll. Jenseits dieser Grenze ließ sich bedenkenlos leben. Seit das CO2 die Debatte beherrscht, haben sich die Grenzverläufe geändert. Galt bislang, dass der Mensch an sich umweltneutral ist, gilt nun das Gegenteil. Kaum eine Lebensäußerung, die nicht CO2 -relevant ist. Selbst das Surfen im Internet verlor seinen sauberen Schein.

Nirgends zeigt sich die Umwertung so sehr wie bei der Milch. In der christlichen Heilsvorstellung fließt sie mit Honig im Paradies - auf Erden nun soll sie direkt in den Klimatod führen. Denn der "Klimakiller Kuh" erzeugt täglich einige hundert Liter Methangas, pro Liter Milch ein Äquivalent von fast einem Kilogramm CO2. Milch trinken ist, global betrachtet, fast genauso schädlich wie das Fliegen. Wissenschaftler fordern längst, der Mensch müsse seine Ernährung nach Klimagesichtspunkten umstellen. Vom Rindfleisch auf das Schweinefleisch, besser noch auf Gemüse.

In England will die marktbeherrschende Handelskette Tesco bald sämtliche ihrer 70 000 Produkte mit einem "Carbon-Label" auszeichnen. Neben Kalorien sind dann die CO2-Mengen angegeben, die durch Produktion, Lieferung und Recycling der Ware erzeugt werden. Weil jedes Produkt aber eine vorweggenommene Handlung ist, bedeutet das wiederum eine Bewertung von 70 000 möglichen Handlungen.

Ein neuer Ismus

Es findet eine CO2isierung des menschlichen Daseins statt. Das hat mit der wissenschaftlich-exakten Messbarkeit zwar eine technische Ursache, aber eine vor allem moralische Wirkung: eine Zweiteilung des menschlichen Handelns in klimafeindlich oder klimafreundlich. Kaum eine Religion, kaum eine Ideologie dürfte je ein so klares Deutungsmuster verfügt haben. Vergleichbar ist höchstens die Ökonomisierung, in der jede Lebensäußerung nach Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten analysiert wird.

Im Vergleich dazu hat die CO2isierung natürlich eine geringe Eingriffstiefe. Sie fordert eher Mäßigung als Gehorsam und kennt kaum staatliche Sanktionen. Doch sie hat eine nie gekannte Breite, die keine neutrale Handlung hinterlässt. Verstand Thomas von Aquin darunter solche wie das Gehen im Freien oder das Aufheben eines Holzscheites, müssen wir heute fragen: Wie bist Du ins Freie gekommen? Mit dem Auto? Und was ist mit diesem Stück Holz? Warum ist es nicht länger an seinem Baum, wo es CO2 bindet? Und willst Du es in deinem Ofen verbrennen? Wenn es Dich wärmen soll: Sind Deine Fenster richtig isoliert? Wenn Du damit kochen willst: etwa Rindfleisch?

Wer lebt, stört

Die CO2isierung trifft den Menschen in seiner Existenz. Lebensbereiche wie Wohnen und Mobilität sind kritisch geworden. Und wenn nun Männer klimaschädlicher sein sollen als Frauen, dann werden sogar genetische Dispositionen in Frage gestellt. Auch eine Scheidung muss man fortan nicht nur vor Gott, sondern ebenso vor dem Klima verantworten, denn Ehehaushalte sind ökologischer als die von Singles.

Kurzum: Nicht schädliches, abstellbares Verhalten bringt CO2 hervor - sondern das menschliche Verhalten an sich. Es ist seine Kultur, die das Feuer als einen Anfangspunkt hat. Selbst die menschliche Verdauung erzeugt übrigens Klimagase, ja es ist die Grundlage seines Stoffwechsel. Überspitzt ließe sich sagen: Laufen ist schädlicher als Gehen, Sitzen besser als Stehen, oder mit den Worten des Dramatikers Tankred Dorst: "Wer lebt, stört".

Eine Totalisierung Aller durch die Mehrheit

Da wundert es nicht, dass der Klimaschutz in die Nähe von ideologischen Systemen gerückt wird. Der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus warnte jüngst, dass Umweltschutz ein Ismus sei, ähnlich wie der Kommunismus, "eine Religion", die versuche, die Weltordnung und Wertsysteme neu zu gestalten. Dieser Tage erscheint von ihm ein Buch, dessen Titel nur rhetorisch fragt: "Blauer Planet in grünen Fesseln. Was ist bedroht: Klima oder Freiheit?". Ähnlich argumentiert der deutsche Klimaskeptiker Edgar Gärtner in "Öko-Nihilismus. Eine Kritik der politischen Ökologie." Die Ökologie sei ein Wertsystem, das die Natur über den Menschen stelle.

Der Vorwurf ist alt und ungerecht. Schon in den achtziger Jahren war die Rede vom Öko-Faschismus. Doch den radikalen Naturschützer damals ging es um eine Verklärung der Natur und um eine Rückkehr in ein vorindustrielles Zeitalter. Zwar ist CO2 isierung ein Totalitarismus - aber welche Ideologie steht dahinter? Welche sind die "wahren Interessen"? Man kann vielleicht diskutieren, ob es die Erderwärmung gibt oder nicht.

Aber es geht nicht um den Schutz der Natur, sondern des Menschen. Auch wird sie weder von einigen versprengten Radikalen, noch von einer isolierten Herrschaftselite vorangetrieben. Es ist eine Totalisierung Aller durch die Mehrheit. Klimaschutz ist den Menschen ein Kernanliegen geworden Nicht der Staat, sondern das Gewissen ist das Kontrollorgan der CO2isierung.

Der Blick hinter den Schein

Das zeigt sich auch daran, dass die Politik das Problem weitgehend dem Markt überlässt, nämlich der Bevölkerung in ihrer Funktion als Verbraucher - sie appelliert nur noch. Doch auf dem Umweltmarkt herrscht eine sonderbare Mischkalkulation aus moralischer Verantwortung und billiger Befriedigung, wie etwa beim sogenannten "Carbon-Branding".

Unternehmen wie Google und Nike werben schon damit, dass sie bald "Carbon-Neutral" produzieren. Auch die Wahlkämpfe von John Edwards und Hillary Clinton sind es. Das reproduziert den sozialen Druck, klimabewusst zu handeln, und bietet zugleich Druckablass durch eine bloße Kaufentscheidung. Ganz ähnlich wie bei den als Ablass geschassten CO2-Ausgleichszahlungen.

Es gibt aber einen wichtigeren Grund, warum die CO2isierung. ebenso gut Chance wie Gefahr für das Klima ist. Denn ausgerechnet das, was den Klimaschutz erst möglich macht, gefährdet ihn: Die wissenschaftliche Erfassbarkeit schlägt um in eine Totalität, in der die geringste Handlung Auslöser eines umwelt-ethischen Entscheidungsprozesses sein soll. Bloß: Sichtsteuerung in der Umweltethik, also zu vermeiden, was schmutzig aussieht, ist nicht möglich. Der Blick muss hinter den Schein auf die Erzeugung gehen. Das verlangt eine permanente Anstrengung, und fördert eine rasche Abnutzung. Zumal dann, wenn ja ohnehin kaum ein Verhalten wirklich regelkonform ist. Hinzu kommt, dass die Maßstäbe fehlen.

Homo Oecologicus

Wenn der Tesco-Kunde weiß, dass eine Tüte "Walkers Onion & Cheese Chips" für 75 g CO2 verantwortlich ist - was weiß er dann eigentlich? Was bedeuten 75g CO2? Orientierung wäre erst möglich, wenn auch angegeben wäre, welchen Anteil vom täglichen CO2-"Bedarf" der Käufer mit einem Produkt erschöpft. Besser noch: Wenn jeder einzelne Lebensakt in eine Gesamtrechnung eingespeist wird. Doch damit sind die Grenzen des Machbaren erreicht.

Sollte der Markt das Klimaproblem nicht in den Griff bekommen, könnte CO2 aber tatsächlich zur Währung im Wortsinne werden. Jede käufliche Ware verfügt über einen spezifischen CO2- Wert. Also könnte der Staat Bezugsscheine an seine Bürger ausgeben, die dann frei über jene drei Tonnen CO2 verfügen, die der Einzelne angeblich jährlich erzeugen darf, ohne das Klima zu erwärmen. Konsum wäre nur noch in der Form des Maßhalten möglich. Eine paradiesische Vision. Bis dahin aber regiert erst mal die Hoffnung, dass der Markt das Problem löst. Ob der Mensch aber ein Homo Oecologicus ist, der die Umwelt über seinen eigenen Nutzen stellt, oder doch ein Homo oeconomicus - das wird sich jetzt zeigen.

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