Kleine Nachtkritik: "King of Drama":Randalierende Tote

Worte sind genug gewechselt, nun lass uns auch den Sieger sehen: arte hat den wichtigsten europäischen Dramatiker aller Zeiten gecastet. Eins war sicher: Bruce Darnell siegte nicht.

Franziska Seng

Auch wenn Kritiker behaupten, das eine sei der Grund für den Untergang des anderen: Fernsehen und Demokratie haben durchaus Gemeinsamkeiten. Beides lebt vom Mitmachen, und manchmal sorgt die Wahl eines bestimmten Programms, das eines Senders oder das eines Kandidaten, später für Überraschungen. Man würde dann gerne wegzappen, merkt aber, dass man - vielleicht weil die eigene Urteilsfähigkeit schon so verkümmert ist - die anderen Programme von dem ursprünglich gewählten kaum unterscheiden kann.

Kleine Nachtkritik: "King of Drama": William Shakespeare wurde von der erlesenen Runde der arte-Kritiker zum "King of Drama" erkoren.

William Shakespeare wurde von der erlesenen Runde der arte-Kritiker zum "King of Drama" erkoren.

(Foto: Foto: AP)

Dieses leicht beklemmende Gefühl stellte sich auch in den letzten Wochen ein, als in Fernsehen und Internet dazu aufgerufen wurde, über Europas "King of Drama" abzustimmen. "Haben wir schon, das ist doch Bruce Darnell", gähnte der eine Dämon, der abgeklärt und etwas verwahrlost auf der linken Backe des Ohrensessels thront.

"Das kann nicht sein, schließlich bin ich doch hier bei arte", widersprach der andere Dämon, verwirrt die Gläser seiner Gleitsichtbrille reibend. Doch es ist wahr, auch der Kultursender hat sich am vergangenen Samstag mit einer Art Casting-Show versucht.

Zehn gelangten in die Endauswahl

"Mit Recht!", wie der gelehrte Philologe hier einwerfen darf, denn der Wettstreit der Dramatiker wurde schließlich im antiken Athen erfunden, wie auch das europäische Theater und die Demokratie. Und soll man dieses fruchtbare Feld den Privatsendern überlassen? Spannung, Verzweiflung, Tränen und wilde Rachegelüste kamen nicht erst durch Dieter Bohlen in die Welt.

Die französische Schauspielerin Emmanuelle Galabru und der deutsche Moderator Dieter Moor führten live aus Berlin durch den Abend der Endentscheidung. Fünfzig Kandidaten, darunter auch zeitgenössische Dramatikerinnen wie Yasmina Reza oder Elfriede Jelinek, standen zunächst zur Vorauswahl.

Zehn gelangten in die Endauswahl und wurden in den vergangenen Tagen in 45-minütigen Kurzporträts auf arte vorgestellt: Sophokles, William Shakespeare, Molière, Friedrich Schiller, Johann Wolfgang Goethe, Anton Tschechow, Henrik Ibsen, Bertolt Brecht, Jean-Paul Sartre und Samuel Beckett.

Ehrfurcht einflößende Namen. Trotzdem quälende Hintergedanken: Reichen zehn tote Theaterklassiker für einen unterhaltsamen Fernsehabend? Warum taucht Heinrich von Kleist nicht in der Auswahl auf, dafür aber Jean-Paul Sartre? Wann war ich überhaupt das letzte Mal im Theater?

Randalierende Tote

Prominente Fans und Experten

Kleine Nachtkritik: "King of Drama": Jürgen Prochnow erzählte von seiner Bildungsreise.

Jürgen Prochnow erzählte von seiner Bildungsreise.

(Foto: Foto: dpa)

Anstelle der nominierten Dichter sind prominente Fans und Experten anwesend. In der Expertenecke sitzen die Theaterkritiker C. Bernd Sucher und Frédéric Fergey, außerdem die Dramatikerin Gesine Danckwart. Da es der Moderatorin Emmanuelle Galabru nicht gelingt, eine Frage zu stellen, die nicht auf ihren Karteikarten steht, kommen die Diskussionen nur schleppend in Gang.

Eine essentielle Frage beschäftigt die Runde: Kann man auf das Urteil der Masse, die "vox populi" bauen? Wird aus dem demokratischen Abstimmungsverfahren wirklich der Geeignetste als Sieger hervorgehen? Oder wählt die Masse nur das Mittelmaß? Eine spannende, grundlegende Frage, die aufgrund der straffen Abfolge von Showeinlagen nicht weiterverfolgt werden kann.

Max Raabe singt für Brecht. Till Brönner bläst für Sartre. Jürgen Prochnow erzählt von seiner Bildungsreise nach Griechenland und von Schiller. Außerdem ist in Kürze zu lernen, wie man die Kulturstifter nicht immer verwechselt: Goethe war der, der viel von der Liebe verstand. Ibsen kannte die Frauen, aber anders als Bertolt Brecht, der sie bekanntlich auch kannte. Beckett war ein Sprachpedant. Sophokles ein antiker Superstar. Als interessierter Bildungskonsument hätte man eine differenziertere Lektüreinterpretation manchmal als wohltuend empfunden.

Nach zwei Stunden, die Entscheidung: Shakespeare landet auf Platz eins, auf dem Podest folgen Schiller und Molière. Die sogenannten Experten beurteilen das Urteilsvermögen der Wählerschar unterschiedlich: Shakespeare gehöre klar auf Platz eins, über die Folgeplätze ließe sich streiten. Einig sind sie sich nur wieder mit ihren Solidaritätsbekundungen für Anton Tschechow, den abgeschlagenen neunten Platz habe er wahrlich nicht verdient!

Nicht alles, was der Masse gefällt, ist mittelmäßig - eine Tatsache, für die Shakespeares Werke nach Jahrhunderten immer noch als Beweis dienen. Hoffnung also, für das Fernsehen, überhaupt für das kriselnde demokratische Bewusstsein? Bis arte es allerdings schafft, klassikertaugliche Casting-Shows zu produzieren, die weder das nach Witz gierende Publikum verhungern, noch die werten Toten in ihren Gräbern randalieren lassen, gilt für den Zuschauer ein Satz aus Sophokles' Tragödie "König Ödipus": "Am schmerzlichsten sind jene Qualen, die man frei sich selbst erschuf."

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