Klassische Musik:Der hat noch gefehlt

Schlichte Klarheit, warmer Klang und nebenan der Tabledance: Bochum feiert sein radikal bürgernahes Musikzentrum.

Von Reinhard Brembeck

Gegen Mitternacht stehen ein paar Eimer im hell erleuchteten Foyer, eine junge Frau kauert in einer Ecke und tippt in ihr Smartphone. Es ist absolut ruhig. Keine Aufregung, keine Hektik, keine Spannung. Nichts deutet darauf hin, dass hier am nächsten Tag die Eröffnung des Bochumer Musikforums bevorsteht.

Der Bau hat eine freundliche, helle Klinkerfassade, nur in der Höhe öffnet sich eine lange Folge schießschartenähnlicher Fenster, insgesamt erweckt das Forum den Eindruck, als würde es schon seit mykenischer Zeit hier stehen. Die zwischen den beiden neuen Forumsbauteilen zwanglos als Foyer belassene neugotische Marienkirche erscheint da geradezu modern, ganz zu schweigen vom Orthopädiehaus daneben und den unzähligen Kneipen des Bermudadreiecks, Bochums berühmtem Ausgehviertel.

Das gesamte Ensemble befindet sich mitten in der Stadt, nur einen Steinwurf vom Hauptbahnhof entfernt, der die großen sozialen Unterschiede in der 400 000-Einwohner-Stadt zu jeder Tageszeit offenbart. Konzertsaal neben Dönerbude und Bratwursthaus, der Tabledance-Schuppen ist nicht weit: So sinnfällig behauptet keine andere Stadt, dass klassische Musik in der heutigen fragmentierten Wirklichkeit ein nach wie vor wichtiges Element ist.

Jeder in Bochum spricht von "Bosi", was für den Fremden völlig unverständlich klingt, aber logisch ist, denn es meint "BoSy", die Bochumer Symphoniker. Wie das Schauspiel wurde auch das Orchester gleich nach dem Ersten Weltkrieg gegründet. Jetzt sind die BoSys zur letzten Probe vor der Eröffnung ihres ersten eigenen Domizils überhaupt versammelt. Der 1000 Plätze fassende Saal mit seinen zwei umlaufenden Galerien ist quaderförmig. Das helle Kirschholz der Wände bietet moderne Gediegenheit. Für ein großes Orchester mit 90 Musikern ist der Saal recht klein. Das aber verschafft dem Hörer eine grandiose Nähe zur Musik. Für die Musik ist der Mensch der Mittelpunkt, sie zieht ihn ganz in ihre Geheimnisse hinein.

Klassische Musik: Ein Blick in den großen Saal.

Ein Blick in den großen Saal.

(Foto: Thorsten Schnorrbusch)

Der Orchesterchef wollte ein "edles Wohnzimmer", kein "Orchestergefängnis"

Nähe ist in Bochum der Wesenskern aller Klassikpolitik: Nähe zur Musik, zur Stadt, zu den Menschen. Also wurden die Karten für das erste von vier Eröffnungskonzerten an diesem Wochenende unter den Bochumer Bürgern verlost. Da kommen nicht nur routinierte Konzertgänger, sondern neugierige Menschen, die begeistert nach jedem Satz von Gustav Mahlers Erster Sinfonie klatschen. Am Schluss stehen sie alle auf, jubeln und wollen ihre BoSys nicht ziehen lassen. Das Haus ist per Bürgerakklamation akzeptiert.

Am glücklichsten ist in diesem Moment Steven Sloane, dem der Bürgermeister gerade einen Blumenstrauß überreicht. Geboren in Los Angeles, übersiedelte er nach Israel und ist nun schon im zweiundzwanzigstem Jahr der Chef des Orchesters. In dieser Zeit hat er nicht nur seinen Wunsch nach einem eigenen Haus durchgesetzt, sondern das Orchester zu einem deutschlandweit und international beachteten Ensemble geformt. Und das, obwohl die Konkurrenz in der Region groß ist, obwohl Duisburg, Düsseldorf, Essen, Dortmund und das durch Kunst(finanz)skandale auffällige Köln größere Konzerthäuser ihr eigen nennen.

Klassische Musik: So sieht die Kirche von innen aus.

So sieht die Kirche von innen aus.

(Foto: Thorsten Schnorrbusch)

Er habe ein "edles Wohnzimmer" gewollt, kein Orchestergefängnis, hat Sloane vor dem Konzert gesagt. Dieser Traum ist in Erfüllung gegangen, endlich, nach 100 Jahren. Alle, die wissen, wo die BoSys bisher aufgetreten sind und wo sie proben mussten, verziehen bei dem Gedanken daran das Gesicht, auch Marko Genero, BoSy-Solobratscher und seit 17 Jahren in der Stadt. Aber dann strahlt er - aus Erleichterung und Begeisterung über den neuen Saal. Endlich können sich die Musiker auf der Bühne hören! Das ist zwar eigentlich die Grundlage jedes Ensemblespiels, nur war es in Bochum bisher nie der Fall. Zudem sei die Akustik "sehr schön, sehr nobel", sagt er, "aber auch sehr gefährlich." Hier ist jeder Fehler hörbar.

In den Akustikwüsten der bisherigen Konzertstätten, im Schauspielhaus und im Audimax seien die BoSys ständig zum Forcieren "über die Grenzen des Schönen" hinaus gezwungen gewesen, um sich durchzusetzen, erinnert sich Genero. Das ist in der warmen und dunklen Akustik des Saals nicht nötig. Aber wie jede schlechte Angewohnheit schwindet auch diese nur langsam. Im Leisen ist jedes Instrument wunderbar zu hören, Bratschen und Fagotte werden verwöhnt. Doch mit anschwellender Lautstärke wird der Klang recht kompakt.

Klassische Musik: Das Ensemble von außen.

Das Ensemble von außen.

(Foto: Thorsten Schnorrbusch)

Über der Empore der hell getünchten Marienkirche hängt eine der ehemaligen Glocken. Auf den Ton B wie Bochum gestimmt, dient sie als Pausengong und ruft die Menschen zur Musik. In den erwartungsvollen Minuten vor dem ersten Konzert dürften so einige Besucher an die bewegte Vorgeschichte des Musikforums gedacht haben. Es gab viele Versuche, den BoSys eine Heimstatt zu verschaffen. Auch das Gelingen des Forum-Projektes war lange ungewiss, schließlich kam es 2009 es in Bochum sogar zu einem Nothaushalt. Doch am Ende erhielt die Stadt sehr viel mehr als nur einen Konzertsaal.

Am Anfang stand vor zehn Jahren die Fünf-Millionen-Spende eines Unternehmers, der das als Parkplatzwüste verwahrlosende Marienkirchenareal sowie Bürgerspendenbeteiligung forderte. Die daraufhin gegründete Stiftung sammelte noch einmal zehn Millionen, der Bochum-Fan Herbert Grönemeyer stiftete die Erlöse aus seinen Konzerten. Die Stadt gab dann sieben Millionen, die Städtebauförderung neuneinhalb und die EU sechseinhalb, machte alles in allem 38 Millionen. Das ist viel Geld für eine Kommune, deren Gewerbesteuern zurückgehen, deren Industrie zusammenbrach (Nokia) oder dahinsiecht (Opel). Für einen Konzertsaal aber ist es ein Schnäppchen. Andere, reichere Städte wie Paris oder Hamburg zahlen das Zehnfache für ihr Konzerthaus, mindestens.

Klassische Musik: Der Dirigent und Orchesterchef Steven Sloane.

Der Dirigent und Orchesterchef Steven Sloane.

(Foto: Musikforum Ruhr)

Auch in Bochum gab es die vertraute Diskussion, ob die Stadt ihr Geld nicht besser für soziale Einrichtungen als für die Hochkultur ausgeben sollte. In einer zehnwöchigen Unterschriftenaktion sprachen sich 20 000 Bochumer für den Saal aus. Damit war es entschieden.

Die Stadt fügte sich, die Baukosten wurden gedeckelt. Zudem erlaubte die von allen gelobte Zusammenarbeit zwischen dem Architektenbüro Bez + Kock, der Stadt, den Akustikern und dem omnipräsenten Steven Sloane schon bei der Planung Einsparungen: ein kürzerer Saal, weniger Aufzüge, unbewegliche Akustiksegel, günstige Terrazzoböden im Foyer, günstigerer Sichtbetonbelag hinter der Bühne. Was zu einer schlichten, aber nie billigen Klarheit führte. Nach drei Jahren stand das Forum schlüsselfertig da.

Vor der Mahler-Sinfonie haben die Bosys die Uraufführung eines Stückes gespielt, das Sloane selbst in Auftrag gegeben hat. "Baruch ata Adonaj, elohejnu melech ha'olam" ist ein alter hebräischer Segen, der auch bei Hauseinweihungen verwendet wird. Sloane hat diesen Text dem Bochumer Komponisten Stefan Heucke empfohlen, damit eine Kantate komponiert. Herausgekommen ist ein halbstündiger Neunsätzer, in dessen Verlauf sich der Saal langsam mit Musikern füllt.

Am Morgen danach wirkt die Stadt wie immer: Im Bahnhof hat eine alte Frau übernachtet

Sloane hilft, das Dirigentenpult hereinzutragen, der fabelhafte Bariton Martijn Cornet intoniert hinten im Rang das "Baruch ata Adonaj", im Raum verteilte Bläser und Streicher schmettern Fanfaren, Solisten der Chorakademie Dortmund und des ChorWerks Ruhr singen. Nach und nach kommen alle BoSys auf die Bühne, dazu der Philharmonische Chor und die Musikschüler. Heucke mischt formbewusst gekonnt Filmmusik mit Chorsinfonik, die hebräische Intonationsformel klingt von Zeit zu Zeit durch. Zuletzt verliebt sich der Komponist in eine immer wieder ansetzende Fuge, das Publikum jubelt.

Der kleinere, für 300 Menschen ausgelegte Multifunktionssaal ist für die vielen städtischen Chöre und die Musikschule bestimmt, mit ihren 10000 Schülern eine der größten in Deutschland. Die EU-Förderung verlangt, dass das Haus nicht für kommerzielle Veranstaltungen vermietet werden darf. Der übliche Tournee-Klassikbetrieb kann hier nicht stattfinden. Das bedauert niemand, gibt es doch etliche damit befasste Konzerthäuser in der Nähe. Die radikale Zuspitzung auf die rein städtischen Klassikbedürfnisse aber macht aus dem Musikforum ein singuläres Modell. Noch ist unklar, ob der Bau von zureisewilligen Firmen und Bürgern als Standortvorteil betrachtet und geschätzt wird. Das ist nicht unwahrscheinlich, schließlich hat sich Bochum durch dieses Projekt als handlungsstarke und erfindungsreiche Kommune ins Bewusstsein gebracht.

Im Konzert vor Publikum kommen die Musiker deutlich besser mit der Akustik zurecht als in der Probe. Doch während die fabelhaften und besonders gefeierten Kontrabässe selbst in den rasantesten Passagen einen berauschenden Vollkörperklang hinbekommen, wirken die Geigen noch immer leicht ausgedörrt. Man müsse in Zukunft "Kraft weg nehmen", sagt der Bratscher Genero. Sloane nennt es "kammermusikalischer" spielen.

Am Morgen nach der Eröffnung wirkt Bochum dann wie immer. Pendler hetzen durch den Hauptbahnhof. In der nahen Unterführung hängt eine Hasch-Wolke, am Zeitungskiosk liegt das Neue Deutschland. In der Bahnhofshalle hat eine alte Frau übernachtet, neben sich Koffer und Schuhe. Ist es vielleicht doch ein ferner Traum, dass etwas wie das Musikforum die Welt verändern? Vielleicht. Vielleicht ist das Forum aber immerhin ein Anfang. In Bochum kann man so etwas nie wissen. Dort werden manchmal einfach die Ärmel hochgekrempelt, und Träume werden Wirklichkeit.

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