Klassik:Spielvereinigung Stuttgart

Der Südwestrundfunk legt zwei große Sinfonieorchester zusammen. Den Chefdirigenten dürfen die Musiker wählen.

Von Josef Kelnberger

Fast drei Jahre ist es her, dass Peter Boudgoust die Welt der klassischen Musik in Aufruhr versetzte. Ein neoliberaler Wüterich, der im Sparwahn zwei Sinfonieorchester mit Weltruf zertrümmert und aus den Resten irgendein neues schmiedet - das war das Bild, das vom SWR-Intendanten gezeichnet wurde. 160 Dirigenten, von David Afkham bis David Zinman, meldeten in einem Offenen Brief ihren Protest an, Politiker bis hin zu Bundestagspräsident Lammert äußerten ihr Unverständnis. Boudgoust musste viele Prügel einstecken. Und heute, etwas mehr als ein Jahr, bevor die Fusion des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart mit dem Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg vollzogen wird? Man kann nicht behaupten, dass Boudgoust in Euphorie verfällt, wenn er von dem Projekt spricht.

Das Leben sei ein beständiges Abwägen von Alternativen, sagt er sehr philosophisch. Und ein "Weiter so" sei eben keine Option gewesen. Er verweist auf das Minus von 70 Millionen Euro in der SWR-Bilanz. Aus zwei Orchestern, die pro Jahr jeweils rund elf Millionen Euro kosten, wird eines, das im Jahr 2020 noch mit 17 Millionen Euro zu Buche schlagen soll. Ob aber die Rechnung aufgeht, dass dieses üppig ausgestattete, neue Orchester künstlerisch ganz neue Höhen erklimmt? Das könne niemand garantieren, sagt Boudgoust. Man könne nur versuchen, die Grundlagen dafür zu schaffen. Und die sind zunächst einmal sehr menschlicher Natur.

Am Mittwochabend haben die Musikerinnen und Musiker einen Einblick in das Programm ihrer ersten gemeinsamen Saison 2016/17 erhalten. Ungewöhnlich früh, schließlich sehen sie in Stuttgart und Freiburg zunächst einmal mit einiger Wehmut der Saison 2015/16 entgegen, ihrer letzten eigenständigen Spielzeit. Aber sie sollen sich schon mal eine Vorstellung davon machen, wie vom Sommer nächsten Jahres an ihr Alltag aussehen wird. Für die Freiburger stellt sich ja die profane Frage: pendeln oder umziehen? Denn das neue Orchester wird in Stuttgart beheimatet sein.

80 Konzerte stehen im Programm, drei internationale Tourneen. Das Abonnement-Angebot in Stuttgart und Freiburg wird komplett aufrecht erhalten, fast vollständig auch das sonstige Angebot. Mehrere Male pro Spielzeit wird das Orchester zu Residenzen für einige Tage in Freiburg weilen. Was das künstlerische Profil betrifft, ist die Ansage klar: Der Schwerpunkt liegt, der Tradition der SWR-Orchester folgend, auf der Neuen Musik. Stellvertretend dafür stehen die Donaueschinger Musiktage, die Konzertreihe "Attaca" und das Festival "Eclat". Einen Chefdirigenten wird es zunächst nicht geben. Und auch das ist als Konzession an die Musiker zu verstehen.

Peter Eötvös erklärte die Fusion für unsinnig. Nun dirigiert er das erste Konzert

Der Chefdirigent wird vom Orchester gekürt. Und so eine Wahl könne gerade bei Musikern, die erst zueinander finden müssen, zu "Verhärtungen" führen, sagt Johannes Bultmann. Er fungiert beim SWR als künstlerischer Gesamtleiter für "Klangkörper und Festival" und hat mit den Orchestermanagern Felix Fischer (Stuttgart) und Reinhard Oechsler (Freiburg) das Programm erstellt. Darin findet sich eine Liste mit 21 Gastdirigenten, darunter bekannte Namen wie Christoph Eschenbach, Philippe Herreweghe und Ingo Metzmacher. In der SWR-Führung hätte man gern einen ganz großen Namen an der Spitze gesehen, um das neue Ensemble besser vermarkten zu können. Aber offenbar drängten vor allem die Freiburger Musiker darauf, man solle sich erst einmal ohne Chefdirigent aneinander gewöhnen.

Es ist ja ein einzigartiges Experiment. Zwei Orchester zusammenzuführen, die sich beide auf höchstem Niveau bewegen, hat noch niemand versucht. Schon in einem normalen Orchester fliegen die Funken, wenn Hierarchien ausgefochten werden. Nun treffen zwei Ensembles mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein aufeinander. Und nicht zu vergessen: Zunächst einmal werden viel zu viele Musiker an Bord sein. Rund 200 sind in Freiburg und Stuttgart unter Vertrag; der SWR vertraut darauf, dass ohne Kündigungen, durch natürliche Fluktuation und Frühverrentung, bis 2020 die geplante Stellenzahl von 119 erreicht wird. Ob in dieser explosiven Gemengelage überhaupt einer der ganz Großen als Chefdirigent nach Stuttgart käme?

Die Zukunft des neuen Orchesters beginnt am 22. September 2016 in Stuttgart mit Gustav Mahlers Adagio aus Symphonie Nr. 10. Bemerkenswerterweise konnte für den Abend als Dirigent Peter Eötvös gewonnen werden. Der Ungar steht auf der Liste der 160 Dirigenten, die vor drei Jahren gegen die Fusion protestierten. Als "künstlerisch unsinnig, ökonomisch mindestens fragwürdig" und als "kulturpolitischer Offenbarungseid" wird in dem Brief die Fusion bezeichnet. Adressat war Boudgoust. Auch David Afkham, David Zinman und einige andere, die damals unterschrieben, werden nun mit dem fusionierten Orchester arbeiten. Eine Weisheit, die Peter Boudgoust trösten dürfte: Zeit heilt Wunden.

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