Klassik:Nähe und Distanz

Die Wiener und die Berliner Philharmoniker erproben in Salzburg ihre unterschiedlichen Corona-Konzepte. Geht das zu Lasten des Klangs?

Von Helmut Mauró

Die Wiener und die Berliner Philharmoniker am gleichen Tag in Salzburgs Großem Festspielhaus: Sie gelten als die weltbesten Orchester, spielen aber mit unterschiedlichen Corona-Konzepten. Beinträchtigen die den Klang? Zumindest bei den Berlinern, deren Musiker auf Abstand gegangen sind. Die Wiener Philharmoniker dagegen spielen am Vormittag auf, als habe es nie einen pandemischen Virus gegeben. Während das Publikum hinter Masken des Konzertbeginns harrt, schlendern die Musiker frisch und frei aufs Podium. Immerhin, der Klaviersolist Evgeny Kissin begrüßt den ersten Geiger nicht mit Handschlag, sondern mit Ellenbogenstoß.

Das ist mehr als eine Formalität, denn schon in Franz Liszts Erstem Klavierkonzert zeigt sich, wie sehr sich Solist und Orchester gegenseitig bedingen. Beide entfalten ihre musikalische Kraft erst im Zusammenspiel. Beinahe scheint es, als sei man innerlich auf Corona-Distanz gegangen und müsse nach neuen Wegen des Zusammenkommens suchen.

Der Wiener Klang ist wie immer warm, kompakt. Selbst die Bläser sind in ihren Forte-Einsätzen klanglich integriert. Nur das Wiener Triangel geht einem auf die Nerven. Es ist zu laut. Dirigent Gustavo Dudamel scheint es nicht zu stören, der Pianist Evgeny Kissin gibt sich unbeeindruckt. Er ist einer der besten Techniker an den Tasten, den wohl längsten Triller der Klaviergeschichte im zweiten Satz nimmt er mit einer routinierten Gelassenheit, die einem Angst machen kann.

Das Paradestück ist Igor Strawinskys Ballettmusik "Der Feuervogel", eine äußerst vielschichtige Partitur. Würden hier größere Abstände zwischen den Musikern helfen? Eher nicht, denn die Koordination wird nicht leichter, wenn sich die Grundfläche des Orchesters vergrößert. Strawinsky wechselt ständig zwischen wuchtiger Klangarchitektur und fein ziselierten Tonkonstruktionen. Da braucht es ein enges Verständnis untereinander. Auch die Soli sind so konzipiert, dass sie nicht aus dem Gesamtklang herausfallen dürfen, sondern kaum merklich aus ihm herauswachsen und im Orchesterzusammenhang bleiben. Dudamel hat da einiges zu tun, das meiste gelingt, manche Kunstpausen fallen zu groß aus, am Ende aber triumphiert er strahlend.

Die Salzburger Festspiele hätten auch den Berliner Philharmonikern ein engeres Beisammensein erlaubt. Doch die deutsche Verwaltungsberufsgenossenschaft, größter Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, verlangt einen Abstand von eineinhalb Metern bei den Streichern und eine Zweimeterdistanz bei den Bläsern. Ein Platzproblem hat man auf der extrem breiten Bühne des Großen Festspielhauses damit nicht, wohl aber ein akustisches. Hat man in der Berliner Philharmonie das Klangoptimum unter diesen Bedingungen bereits ausgetüftelt, musste man in Salzburg noch einmal neu sondieren.

Es klingt ohnehin alles ein bisschen schärfer, vielleicht preußischer, als bei den Wienern. Manchmal auch stählern. Ein sehr deutscher Brahms

Zunächst für Arnold Schönbergs hochromantische "Verklärte Nacht" in der Fassung für Streichorchester. Die legt sich samtweich über die ersten Geigen, der Klang scheint nicht beeinträchtigt. Doch bald kommt einem das Ganze doch recht spröde vor, auch wenn sich die Musiker noch so leidenschaftlich ins Zeug legen und sie Dirigent Kirill Petrenko hin und wieder ein wenig darin bestärkt. Denn eigentlich ist das seine Sache nicht: das Schwelgen in Klang.

Die eingeschränkte Kommunikation spielt bei einem Spitzenensemble wie den Berliner Philharmonikern sicherlich kaum eine Rolle, da versteht man sich blind. Aber die Präzision wirkt stellenweise übertrieben, die Klarheit schlägt um in Abgeklärtheit, es fehlt an jener Magie, die aus einem geschlossenen Klangkörper die entscheidende, berührende musikalische Geste zaubert. Doch wiederum hört man auch das nach einer Weile anders. Gewinnt das Stück durch die hier gebotene Überdeutlichkeit wieder ein wenig an mystischer Kraft? Der perfekt ausbalancierte Schluss dieser "Verklärten Nacht" legt solche Vermutungen nahe.

Doch wie wird es der Vierten Symphonie von Johannes Brahms ergehen? Petrenko wählt ein eher gemächliches Tempo für die gespiegelten Intervallsprünge des ersten Themas. Aber er bebt nicht mit jedem Ton, wie seinerzeit Leonard Bernstein, sondern stellt alles beinahe neutral zur Disposition. Die Dramatik zieht er aus dynamischen Abstufungen, weniger aus agogischer Bewegung. Doch plötzlich platzen die Trompeten herein, etwas zu laut, etwas zu scharf, ein bisschen überfallartig. Petrenko stört dieses Problem offenbar auch, immer wieder bedeutet er den Trompeten, etwas leiser zu spielen. Es klingt ohnehin alles ein bisschen schärfer, vielleicht preußischer, als bei den Wienern. Manchmal auch stählern. Ein sehr deutscher Brahms.

Doch dann das Andante. Ein ganz anderer Klang. Sinnlicher, beschwingter. Petrenko lässt die Zügel etwas lockerer. Das Andante exerziert nicht mehr im Stechschritt - es schwebt. Welch angenehme Überraschung. Petrenko, der immer zu größtmöglicher Präzision und Klarheit neigt, braucht keine vergrößerten Abstände im Orchester, um Einzelheiten hervorzuheben. Das zeigt auch das strahlende Finale, wo sich akustisch alles zum Besten fügt. Zum einen hat die augmentierte Anordnung der Musiker im Forte und Fortissimo kaum Auswirkung, hier bildet sich der Klang anders, zum anderen kann man in diesem ausgedehnten Variationensatz gar nicht deutlich genug sein.

Ob die Berliner Corona-Sitzordnung ein Vorbild für andere, zumal weniger hochkarätige Orchester sein kann - man darf es bezweifeln. Sie verlangt Extra-Anstrengung und Flexibilität von Musikern und Dirigent, ein noch genaueres gegenseitiges Hören und ein präziser abgestimmtes Spielen. Das ist eine gute Übung, wird aber nicht in jedem Fall zu einem besseren Ergebnis führen.

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