Klassik:Furchtloses Schweben

Hans Zender

Für Haydn und Debussy kann er sich so begeistern wie für Nono oder Lachenmann. Er ist einer der anregendsten Komponisten unserer Zeit: Hans Zender.

(Foto: Astrid Ackermann)

Der Komponist als Forscher: Hans Zender, bald 80, wird bei der Musica viva in München mit einem wuchtigen Porträt-Konzert geehrt. Seinen Hörern wünscht er: "Happy New Ears!"

Von Wolfgang Schreiber

Er hat Schuberts "Winterreise" durchforstet und für Ensemble neu bearbeitet, er hat Beethovens monumentale Diabelli-Variationen für Klavier einem ähnlichen Ensemble-Verfahren unterworfen und sie Alfred Brendel gewidmet. Hans Zender ge-braucht für solche Neudeutungen den Be-griff "komponierte Interpretation". Der Di-rigent, Komponist und Musikphilosoph, in wenigen Wochen achtzig Jahre alt, be-zeichnet seine Re-Kompositionen gern als "Balanceakte". Und bezieht sich dabei auf Nietzsche. Dieser habe gedacht, im Verhältnis von alt zu neu werde das Neue das Alte immer zerstören. Es gibt aber "eine Möglichkeit, dies zu vermeiden und das ist ein 'furchtloses Schweben' über dem Abgrund der Geschichte".

Dass die Musica-viva-Reihe in München Hans Zender mit einem wuchtigen Porträt-Konzert ehrt, ist als Reverenz vor einem der intellektuell regsamsten und auch anregendsten Komponisten unserer Zeit nicht selbstverständlich. Denn der Komponist Zender stand oft im Schatten des Orchesterleiters gleichen Namens: In den Jahren als Chefdirigent von Radio-Symphonieorchestern, in Saarbrücken oder Baden-Baden, und als Musikchef an den Opernhäusern von Kiel und Hamburg erkämpfte sich Zender, wie nur wenige in dem Metier, die enorme Breite des Repertoires, von der Klassik und Romantik bis zur Moderne und Avantgarde.

Er "konnte" alles und engagierte sich gleichermaßen für Haydn, Debussy und Nono, für Beethoven, Scelsi, Lachenmann, für Bruckner, Varèse und Bernd Alois Zimmermann - Multikulti mit Herz und Taktstock. Bei den Bayreuther Festspielen dirigierte er den "Parsifal". Ans Dirigieren denkt Zender jetzt im Alter allerdings nicht mehr, seit langem triftet sein Musik-Denken ins Eigene, ins Offene.

Als Komponist ist Hans Zender stark von der flammenden Figur des radikalen Tonschöpfers Bernd Alois Zimmermann geprägt worden, von Zimmermanns poetologischer Kraft und Subjektivität, der Abwehr aller dogmatisch seriellen Kompositionstechniken der Nachkriegsavantgarde. Besonders wirkte auf ihn Zimmermanns Klangpluralismus. Das Zauberwort von der "Kugelgestalt der Zeit" meint die Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Sie wird in Stellung gebracht gegen die Auffassung von der linear zielgerichteten Zeit, gegen das Fortschrittsdenken in den Künsten. So konnten, und zwar lange vor der Postmoderne, die Technik der Collage der Klänge, Sprachen, Stile und Epochen in Zenders Musikschaffen Fuß fassen.

Hier in der Musica viva wahrnehmbar: Der Zugang zu Zenders Musik geht über das Lesen der Partituren und über das genaueste Hören der Klänge und Klangverhältnisse. "Hölderlin lesen" heißt der Titel zweier Hölderlin-Vertonungen für Sprechstimme und Instrumente. Und "Waches Hören" heißt der vor zwei Jahren erschienene Hanser-Buchtitel mit Zender-Essays.

Die Gewissenhaftigkeit des Lesens und Hörens färbt die Tonintervalle. Zender, von der Kultur Chinas und Japans faszi-niert, teilt die Oktave in Dutzende klein-ster Einheiten. Glitzernd schräge Mikrotonalität und die fernöstliche Schreib- und Denkkultur bestimmen somit den Musica-viva-Abend im Münchner Herkulessaal. "Kalligraphie IV" zu Beginn: Das von Emi-lio Pomàrico mit Elan befeuerte BR-Symphonieorchester befördert mikrotonal aufgefächerte Klangstrukturen in gewaltige Schübe farbsatter Pracht. Im Stück "Issei no kyo" (Gesang von einem Ton) für Sopran und Orchester lässt Donatienne Michel-Dansac mit zauberischen Stimmgesten in vier Sprachen den Vierzeiler des Zen-Meisters Ikkyu in einen verlockenden Klangstrom einfließen - spielerisch auf deutsch, geheimnisvoll auf chinesisch, theatralisch auf französisch und magisch-rituell auf englisch.

Seit Jahren treibt es Zender um - Aufklä-rung zu schaffen im vertrackten Verhält-nis von Wort-Ton, Sprache-Musik, das die Gemüter der Musikgeschichte seit je aufwühlt. Und es bestimmt sein Großwerk "Logos-Fragmente". Die hier präsentierten fünf Abschnitte aus dem Zyklus für 32 Singstimmen und vier Orchestergruppen sind um 2010 entstanden. Der übergroße Klangapparat der Holz- und Blechbläser, Streicher und einer raffinierten Perkussionsbatterie nötigt Respekt ab. Nicht weniger der unerschütterliche Rekurs des Komponisten auf die christliche Überlieferung, die Denkmuster biblischer Texte, seine Lust auf die Vertiefung in die religiöse Dimension unserer Kultur.

Den Zuhörern wünscht er dann oft: "Happy New Ears!"

Logos-Fragment II, "Passion" genannt, beruht auf einem Text aus hebräischer Spruchsammlung, die Verse inmitten iri-sierender Klangbänder werden mehr rezi-tiert als gesungen. Fragment IV heißt "Weinstock" und bezieht den Text aus dem Johannes-Evangelium im Luther-Deutsch, schichtet die Worte komplex übereinander. Der Reichtum an magi-schen Bezügen von Klang und Sprache ist beeindruckend. Höhepunkt schließlich: Fragment IX, "Geist" - es türmt sich über dem biblischen Bericht von der pfingstlichen Ausgießung des Geistes eine rätselvolle Collage, fesselnde "Zungenrede" aus altgriechischem Lied, Latein und deutschem Lutherwort. Ein "furchtloses Schweben" ist das tatsächlich - in der Tiefenauslotung von Wort, Klang, Sinn, Bedeutung. Im Wahrnehmungserlebnis ein Reiz, der die Ohren bezwingt und das Publikum zum Staunen und heftigem Applaudieren bringt. "Happy New Ears": Das hat Hans Zender seinen Hörern schon oft gewünscht.

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