Klassik:Freilassung des Publikums

Klassik: Daniel Barenboim hat Schönbergs "Variationen" völlig verinnerlicht.

Daniel Barenboim hat Schönbergs "Variationen" völlig verinnerlicht.

(Foto: AFP)

Festivalitis in Berlin: Barenboim begeistert mit Schönberg.

Von WOLFGANG SCHREIBER

Zwei ungleiche Berliner Klassikmusikfestivals, ein großes und ein sehr kleines, stoßen zusammen und erzeugen heterogene Klangwelten, reich an Zwischen- und Obertönen. So eröffnen Daniel Barenboim und seine Staatskapelle in der überfüllten Philharmonie das Musikfest Berlin, das bis zum 20. September andauert - ausschließlich mit Arnold Schönbergs Musik auf den Notenpulten. Und es lockt zeitgleich ein zweitägiges Festival mit fünf Kontrabassklarinettisten und den "Neuen Vocalsolisten Stuttgart" so viele Zuhörer an, dass in der weiträumigen St. Elisabeth-Kirche zu Berlin-Mitte, nahe dem Hauptbahnhof, kein Platz frei bleibt.

Das Musikfest bietet wie jedes Jahr die hoch qualifizierte Orchesterkunst, diesmal aus Boston, San Francisco, London und Tel Aviv, aus Stockholm und Kopenhagen, dazu von den fünf Berliner Symphonieorchestern - unter illustren Maestri. Es dominieren die haarfein abgezirkelten Programme, auch der Kammermusik, wie sie Musikfestchef Winrich Hopp mit seinen dramaturgischen Ideen befeuert - die er ja auch der Münchner Musica viva angedeihen lässt. Das Musikfest konzentriert sich auf Musik von Schönberg, Beethoven, Mahler und dem vor 150 Jahren geboren Komponisten Carl Nielsen, der in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern nie so recht heimisch wurde.

Für Barenboim bedeutet Schönberg, der 1951 starb, noch immer die zentrale Heimat musikalischer Moderne, die perfekte Balance von Stil und Gedanke, Konstruktion und Klang. Traumwandlerisch, fast nostalgisch, ist sein Umgang damit. Barenboim zwingt die "Verklärte Nacht" und danach die zersplitternde Textur der "Fünf Orchesterstücke" op. 16 in eine raffinierte spätromantische Klanglegierung. Was den atonalen Orchesterminiaturen ein wenig den gläsernen Charakterton raubt, wie ihn etwa Pierre Boulez hervorbringen ließ.

Das Berliner Publikum muss dem Expressionisten Schönberg einfach zujubeln

Auch Schönbergs "Variationen für Orchester" op. 31 dirigiert Barenboim auswendig, er hat die knifflige Partitur, die sein Mentor Wilhelm Furtwängler 1928 aus der Taufe hob, völlig verinnerlicht. Diese Variationen gehören zu Schönbergs scharfsinnigsten, zu seinen komplexesten Musikwerken überhaupt. Und so verdient Barenboims intellektuelle wie auch klangsinnliche und gestische Geistesgegenwart im Durchdringen und Darstellen der zwölftönigen Partitur jede Bewunderung. Er findet in ihr sogar reine Schönheit.

Die Staatskapelle folgt ihm dabei mit aller Hingabe - sodass selbst ein auf ungewohnt hartem Terrain gefordertes Publikum sich dem Sog der Aufführung schwer entziehen kann: Es muss dem sperrigen Expressionisten Schönberg und seinen Spielern einfach zujubeln.

Weit weg vom philharmonischen Klanghorizont der Sound der Kontrabassklarinette, unter den Holzblasinstrumenten das attraktive Ungetüm mit seinem charakteristisch tief liegenden, mürbe grummelnden Tonspektrum. Theo Nabicht ist ihr Promoter, der sich als Jazzmusiker früh mit der Bassklarinette verbunden hat. Nabicht ist auch der Erfinder des Festivals "Fünf plus Fünf", bei dem er mit vier Bassklarinettenkollegen und den "Neuen Vocalsolisten Stuttgart" antritt, um an zwei Abenden ausschließlich neue Kompositionen zu präsentieren.

Im leeren Kirchensaal von St. Elisabeth mit ihren nackten Backsteinwänden und der enormen Raumhöhe nimmt sich der sanft röhrende Klang der Bassklarinette wie Sphärenmusik aus. In den Stücken von Georges Aperghis, Sergej Newski und Agata Zubel, von Ernesto Molinari oder Helmut Zapf werden aparte oder verstörende Spieltechniken und Klangzustände erprobt, in wechselnden vokalen und instrumentalen Konstellationen.

"Freilassung des Publikums" heißt die Devise für das Stück "Eiland (Isola). Das aufgehobene Ich" von Manos Tsangaris, der demnächst die Münchner Musikbiennale ausrichten wird. Zugrunde liegt ein flexibles Raummusikkonzept, die Zuhörer flanieren zu fünf verschiedenen Orten im Kirchenraum, wo sie sitzend, gehend oder stehend die differenziert auskomponierten Tonerzeugungen je einer Kontrabassklarinette und einer Sängerin oder eines Sängers verfolgen. Beleuchtungseffekte verändern das Raumerlebnis. Nähe und Entfernung der Musik sind nun wandelbare Größen geworden, wie sie es in Schönbergs philharmonischen Welten nie sein durften.

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