Klassik:Fast ein Schlaraffenland

"Größte kulturelle Extravaganz": In Berlin ist die Klassik bunt und vital aufgestellt. Und jetzt bekommt die Stadt mit dem Pierre-Boulez-Saal einen weiteren Musikraum. Entworfen hat ihn Stararchitekt Frank Gehry. Das klingt schon mal gut.

Von Wolfgang Schreiber

Eine Elbphilharmonie macht noch keine "Musikstadt". Und umgekehrt - die Konzertsaalquerele kann Münchens Rang als Musikmetropole kaum schmälern. Und Berlin? Hier versammelt sich wohl die vielfältigste, an kreativer Energie lebendigste Klassikszene: drei Opernhäuser, ein halbes Dutzend Symphonieorchester, zwei Weltklassechöre, Ensembles der Kammermusik und der Kantoreien, die Menge freier Musikgruppen, das Nachwuchsgewusel an zwei Musikhochschulen ... Schwer, den Überblick zu behalten. Jetzt gibt es einen neuen Raum für rund 600 Zuhörer: den von Stararchitekt Frank Gehry kostenlos entworfenen Pierre-Boulez-Saal für die neu gegründete Barenboim-Said-Akademie. In ihr optimieren junge, mit Barenboims West-Eastern Divan Orchestra liierte Musiker aus Israel und arabischen Staaten ihre Talente. Eingeweiht wird am kommenden Samstag.

Die Besucherfrequenz, Gradmesser künstlerischer und kulturpolitischer Relevanz, ist in Berlin neuerdings hoch. Die Staatsoper, die am 3. Oktober nach sieben Jahren West-Berlin-Exil in ihr Stammhaus Unter den Linden zurückkehren will, kommt im Ausweichquartier Schillertheater auf 88 Prozent "Auslastung" für 2016. Was auch der Magnetkraft von GMD Daniel Barenboim geschuldet ist. Gestiegene Zahlen auch am größten Berliner Haus, der Deutschen Oper in Charlottenburg. Gerade hat Chefdirigent Donald Runnicles, musikalisches Schwergewicht, den Vertrag langfristig verlängert. Die kleine "Tischlerei" des Hauses experimentiert mutig mit Kinder- und Jugendmusiktheater.

Die Komische Oper im alten Osten erlebt unter dem erfinderischen Intendanten Barrie Kosky seit 2012 enormen Aufschwung an Ideen für Oper und freche Operette. Nur am Staatsballett Berlin hängt der Haussegen schief: Die Kompanie protestiert gegen die Kulturbehörde, die die künstlerische Leitung zur Hälfte der Choreografin Sasha Waltz übertragen hat.

Die Berliner Opernkrise der frühen Nullerjahre ist lange vorbei, was mit der 2004 begründeten, nicht unumstrittenen "Opernstiftung" öffentlichen Rechts zu tun hat. Sie umschließt neben den drei Opern das Staatsballett und einen Bühnenservice mit zentralen Dekorations- und Kostümwerkstätten, bei künstlerischer und wirtschaftlicher Autonomie der einzelnen Häuser. Sie ist Arbeitgeberin von rund 2000 Mitarbeitern der Institute.

Noch immer wundert man sich über die Rattle-Nachfolge bei den Berliner Philharmonikern, den Münchner GMD Kirill Petrenko. Der als Pultmagier gefeierte Russe tritt zwar erst 2019 hier an, doch gespannt ist man schon jetzt, ob dieser strikt die mediale Öffentlichkeit meidende Maestro einem Orchester, das auf Qualität plus Hochglanz-Image bedacht ist, wirklich Glückes genug bescheren kann. Die Philharmoniker haben auch gleich eine neue Intendantin ernannt. Rattle, der bereits 2018 das London Symphony Orchestra übernimmt, nannte die Philharmoniker neulich, "das eigenwilligste Orchester der Welt".

Dirigentenwechsel auch beim Deutschen Symphonieorchester (DSO), dem früheren Rias-Symphonieorchester Ferenc Fricsays, Lorin Maazels, Kent Naganos, und beim Rundfunksymphonieorchester Berlin, 1925 gegründet. Für den 78-jährigen Marek Janowski, der innerhalb von zwölf Jahren die Spielkultur imponierend steigern konnte, übernimmt ab Herbst der 1972 geborene, international erfahrene Russe Vladimir Jurowski. Das DSO hat den 32-jährigen, längst erfolgreichen Londoner Robin Ticciati gekürt. Beide Orchester blicken auch deshalb in eine gesicherte, wohl schöne Zukunft, weil sie von einer speziellen Strukturnovität mit zungenbrecherischem Namen profitieren: Der Rundfunkorchester- und -Chöre-GmbH, nach 1989 erfunden, gelang es, die durch die Vereinigung gefährdeten Klangkörper abzusichern. Deutschlandfunk, Land Berlin, der Bund und Radio Berlin-Brandenburg "tragen" zwei Orchester sowie zwei berühmte Chöre, den Rias Kammerchor und den Berliner Rundfunkchor. Auch sie haben neue Chefs.

Klaus Wowereits Spruch für Berlin, "arm aber sexy", hat sich längst verflüchtigt

Noch zwei Symphonieorchester gibt es: Das Konzerthausorchester wurde in der DDR als Pendant zu den West-Philharmonikern gegründet. Dort am Gendarmenmarkt hat der Ungar Iván Fischer jüngst seinen Abschied angekündigt. Anders die Berliner Symphoniker, 1967 gegründet: Sie existieren eigentlich nicht mehr, weil der Senat vor Jahren alle Subventionen strich. Und doch konzertieren sie - gleichsam auf eigene Faust. Mit Lior Shambadal musizieren sie auf Reisen durch die Welt, in Berlin vor ihrem getreuen Publikum.

Die Vitalität der Klassik hier klingt einmal nach Tradition, zum andern schillernd genug nach Innovation und Experiment. So hat die Gegenwartsmusik im ersten Jahresviertel zwei Festivals auf der Agenda: Das extravagant bestückte Ultraschall-Festival ist gerade zu Ende. Das zur Berliner Festspiele-GmbH gehörige Festival für Zeitfragen widmet sich demnächst neben der Musik wieder philosophiehaften "Diskursformaten".

Nicht zu vergessen das "gefühlte" vierte Opernhaus für 220 Zuschauer, die Neuköllner Oper im alten Festsaal einer Gebäudepassage in der Karl-Marx-Straße. Von Oper über Musical bis Crossover reicht das Spektrum. Natürlich zieht ein Kulturzentrum wie das "Radialsystem V", in der Maschinenhalle eines alten Wasserpumpwerks an der Spree, enorm beim jungen Publikum. Seit 2006 gibt es diesen "Space for Arts and Ideas", auch Brennpunkt der Tanzkompanie "Sasha Waltz & Guests".

Die Klassikmusikszene der kulturell hochgerüsteten Metropole präsentiert sich tatsächlich als Attraktion. Die schräge Berlin-Gleichung vom ehemals Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit, "arm, aber sexy", hat sich zwar verflüchtigt, doch sie lässt sich ersetzen mit einem Wort des temporären Berlinbewohners David Bowie: "Berlin, die größte kulturelle Extravaganz, die man sich vorstellen kann."

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