Kino:Wo die Freiheit endet

Köpek Türkische Filmtage

Intoleranz und Unterdrückung: Für ihr Selbstbewusstsein muss die transsexuelle Ebru in "Köpek" bezahlen.

(Foto: GMfilms)

Die Türkischen Filmtage geben Einblicke in ein gespaltenes Land, in dem sich konservativ-religiöse AKP-Anhänger und eine säkulare Mittelschicht gegenüberstehen

Von Luisa Seeling

Cemo ist ein guter Junge, das wird schnell klar, in Cemo setzt der Zuschauer seine ganze Hoffnung. Der Zehnjährige bringt einen Welpenwaisen nach Hause, um ihn aufzupäppeln. Die Mutter antwortet mit einem Stoßseufzer: "Mein Junge, warum bist du so sensibel?" Das Geld ist knapp, sie muss als Klofrau schuften. Der Vater ist ein nichtsnutziger Wüterich, der seinen Sohn zum Zigarettenholen scheucht. Sie wollen keinen Welpen, sie wollen auch kein Sensibelchen als Sohn. Denn die Sensiblen haben es schwer. Sie können der Härte, die in dem Drama "Köpek" den Alltag der Millionenstadt Istanbul prägt, nichts entgegensetzen.

"Köpek" (Hund), einer der neun Spielfilme, die im Programm der 27. Türkischen Filmtage laufen, ist ein Film über Menschen, die Liebe suchen, aber Gewalt bekommen. Die türkisch-schweizerische Regisseurin Esen Işık hat ihn einer italienischen Künstlerin gewidmet, die 2008 auf einem Friedensmarsch von Rom nach Palästina vergewaltigt und getötet wurde. Drei Schicksalen spürt Işık in erzählerisch verschränkten Episoden nach. Da gibt es Hayat, die sich heimlich mit ihrem früheren Verlobten trifft. Die beiden reden nur, doch Hayats Mann, ein Minibus-Fahrer, greift zu brutalen Mitteln. Oder die transsexuelle Ebru: Sie trauert ihrem Geliebten nach, einem gutsituierten Apotheker. Der begehrt sie, heiratet aber lieber standesgemäß, als sich zu ihr zu bekennen. Für das Selbstbewusstsein, mit dem Ebru die Kopfsteinpflaster des Ausgehviertels Beyoğlu hinunterstöckelt, wird sie teuer bezahlen.

Filme aus der Perspektive von Jungen und Mädchen, die in Rollenmuster gedrängt werden

Und Cemo, der auf der Straße Taschentücher verkauft anstatt in die Schule zu gehen: Er hat sich in ein Mädchen aus besseren Kreisen verliebt. Doch erst mit dem Welpen im Arm traut er sich, sie anzusprechen. Am Ende treiben ihn die Erwachsenen zu einer verzweifelten Tat. Viele der in diesem Jahr vorgestellten Filmemacher konzentrieren sich auf die Perspektive von Kindern; von Jungen und Mädchen, die in Rollenmuster gedrängt werden. Aber auch von Kindern, die längst erwachsen sind - und sich doch nicht befreien können aus Zwängen und Konventionen.

In "Mustang", dem viel gelobten Coming-of-Age-Drama der in Frankreich lebenden Regisseurin Deniz Gamze Ergüven, rebellieren in der anatolischen Provinz fünf lebenshungrige Schwestern gegen die Moralvorstellungen der Großeltern. Seine Leichtigkeit und sein schräger Humor haben "Mustang" 2015 eine Oscarnominierung als bester fremdsprachiger Film eingebracht. Im Gasteig ist er der Eröffnungsfilm.

Ana Yurdu (Mutterland) ist düsterer, ein Mutter-Tochter-Drama, in dem sich der Kulturkampf eines ganzen Landes spiegelt. Nesrin, eine geschiedene Großstädterin, zieht sich in das Dorf ihrer verstorbenen Großmutter zurück, um einen Roman zu schreiben. Als ihre frömmelnde Mutter anreist, brechen alte Konflikte voll aus. Die Mutter kann sich nicht abfinden mit dem Lebenswandel der Tochter; die Tochter lehnt sich auf gegen die Bigotterie der Mutter - und wirkt in ihrem eigenen, scheinbar freieren Leben seltsam verloren.

In Sezem Tüzens Film trifft das moderne Individuum auf die traditionelle Gemeinschaft. In kühlen, farblich kargen Bildern zeigt die Regisseurin, wie sich die Frauen mit ihren rigiden Moralvorstellungen das Leben zur Hölle machen. Als Nesrin eine in Ungnade gefallene Dorfbewohnerin besucht, wird sie zur Strafe von einer alten Frau angespuckt. Die Gräben in "Ana Yurdu" sind so tief wie im ganzen Land, wo sich Anhänger der konservativ-islamischen AKP-Regierung und eine säkulare, urbane Mittelschicht voller Verachtung gegenüber stehen.

In diesem Milieu, der städtischen Mittelschicht, hat der 1984 geborene deutsche Regisseur Ilker Çatak seinen Kurzfilm "Sadakat" (Treue) angesiedelt, mit dem er den Studenten-Oscar in Gold und andere Preise gewonnen hat. "Sadakat" spielt 2014, kurz nach der Wahl Recep Tayyip Erdoğans zum Präsidenten; ein Jahr nach den Gezi-Protesten erschüttern wieder Unruhen das Zentrum Istanbuls, die Polizei macht Jagd auf Demonstranten. Aslı, eine junge Arzthelferin, bietet einem der Aktivisten Schutz - und hat prompt die Staatsmacht am Hals. Ihr Mann, ein Ingenieur, will mit der Polizei kooperieren; er will seine Karriere und seinen Wohlstand nicht gefährden.

"Sadakat" handelt von der Treue zu einem Menschen - aber auch davon, wie schnell man seine Ideale verrät, wenn der Wind mal schärfer weht. "Wir haben ein Kind, verstehst du nicht?!", schreit der Ingenieur seine Frau in einer Szene an. Die antwortet mit einer Gegenfrage: "Aber verstehst du nicht, in welcher Art Gesellschaft dein Kind aufwachsen wird?"

27. Türkische Filmtage, Donnerstag, 21., bis Freitag, 29. April, Gasteig; Informationen unter www.sinematuerk-muenchen.de

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