Kino: "101 Reykjavík":Freitags Flamenco

Baltasar Kormákurs Film "101 Reykjavík", eine Parabel vom notwendigen Sex

Fritz Göttler

(SZ vom 19.06.2002)- Immer das Gleiche, überall. Sex, Lügen & Satellitenfernsehen. Die alten Geschichten, die alten Fragen: Warum die Sender eigentlich keine Pornos am Morgen senden, wo man sie gut brauchen könnte, um sich aufzurappeln, um sich hochzubringen für den Tag!

Kino: "101 Reykjavík": Bloß keine Tragödie, ist das Prinzip der langen Nächte von Reykjavik.

Bloß keine Tragödie, ist das Prinzip der langen Nächte von Reykjavik.

Reykjavík kann sehr kalt sein, das erfahren wir in diesem Film, und sehr langweilig außerdem, eine Stadt, in der alles stagniert. Samstagnächte, wird uns erzählt, sind hier Freitagnächte, Teil 2, das Sequel. Wobei all jene, die im ersten Teil gestorben sind, im zweiten nochmal sterben. Der einzige Grund, dass Leute hier leben, ist, dass sie hier geboren sind.

So elementar geht es zu in diesem Film: Zeugung und Geburt, Mutter- und Vaterschaft. Die Stadt ist wie eine Puppenstube, sodass man keine Probleme hat, mit einer einzigen Kamerabewegung von der Straße in die Wohnung zu kommen, von der Fernsehsatellitenschüssel durchs Fenster hin zur Fernbedienung, die in der Hand des - noch - schlummernden jungen Mannes steckt: Hlynur (Hilmir Snaer Gudnarson), dem Twenalter kaum entwachsen, arbeitslos, bei der Mutter hausend, von ihr verwöhnt.

Immer das Gleiche

"101 Reykjavík" - der Titel meint den entsprechenden Postbezirk - ist ein Film, in dem die Nächte so lang ausgedehnt sind wie möglich, damit man weniger von den Tagen hat. Was man aus den Kaurismäki-Filmen kennt - und wie bei seinem finnischen Kollegen sind auch bei Baltasar Kormákur mehr oder weniger gut gefüllte Biergläser meistens zur Hand. Der Regisseur hat eine Kneipe in der Hauptstadt - das Kaffibarinn -, wo viele Szenen gedreht wurden, und Damon Albarn von der Band Blur ist Mitbesitzer - er hat mit Einar Ørn Benediktsson die Musik zum Film gemacht.

Immer das Gleiche also. Kneipennächte. Familienfeiern. Mädchen und Masturbation. Wie immer bei den nordischen Film-Singles spürt man auch in Hlynur einen Hauch Hamlet, hinter den Brillengläsern. Dann kommt Lola in sein Leben, die Flamencolehrerin. Die Lesbe. Sie bleibt über Neujahr, während die Mutter loszieht auf Familienbesuch. "What are you doing in life?", fragt Lola (Victoria Abril). "Nothing." "What kind of nothing?" "The nothing kind of nothing."

Die beiden kommunizieren in einer fremden Sprache, natürlich. Der "Eissturm" hat den Regisseur besonders inspiriert bei diesem Film, und Soderbergh ist sein großes Vorbild - von ihm hat er offensichtlich das Timing gelernt, um gnadenlos, aber nicht ohne Sympathie die Beschränktheit von Visionen aufzuzeigen. Rebellion und Glamour, kann man wirklich noch davon träumen?

Ein Plakat von Brandos "The Wild One" hängt in einer Bude, und manchmal schimmert verführerisch die Unterwäsche in der Mittelstandsmonochromie. Wenn man die Beziehungen zwischen den Figuren auf einen Punkt bringt, auf eine der Formeln, mit denen Filmhandlungen gern zusammengefasst werden, wirken sie grotesk, irgendwie unanständig: Sohn einer lesbischen Mutter vögelt deren spanische Freundin und macht ihr ein Kind.

Aber wenn man Victoria Abril sieht, wie sie nach einer langen Nacht nach Hause kommt, eine Pelzhaube auf dem Kopf, ganz Naturmensch, rousseausche Wilde, und dann nimmt sie die Haube ab und hat eine violette Schleife im Haar ..., dann weiß man, wovon der Film spricht. Und weil sie ein wenig groggy ist von der Nacht, lümmelt sie sich wohlig ins Bett und dreht sich mit einem kurz angestimmten "When I was just a little girl ..." zur Wand. Die Stimme ist von den fremden Konsonanten aufgerauht, sexy.

Das Schweigen

Eine Mutter also und ihr Sohn. Für einen kurzen Augenblick wird - ein Ingmar-Bergman-Flashback in einem Kaurismäki-Movie - der Vater in Erinnerung gerufen. Es ist das Ende der Individuen, der einzelnen, das heißt erzählenswerten Schicksale. Es ist eine Welt, in der es auf die einzelne Beziehung nicht mehr ankommt. Ich bin Europudding, Eurotrash, erklärt der Regisseur, in seinen Adern gibt es katalanisch-französisch-italienische Spuren. Das Island, das er zeigt, hat mit dem des Tourismus nichts zu tun. Nur enge Innenräume, selten Landschaft - und wenn, dann als Ort einer Selbstmordinszenierung.

Landschaft, sagt Kormákur, muss mit Bedacht eingesetzt werden. "Wie beim Sex - wenn man es nur ausbeutet, ist es uninteressant. Wenn es notwendig ist für die Geschichte, ist es schön." Nur mit dem Flamenco kommt ein wenig Weite in den Film.

Eine fremde Ökonomie motiviert die Menschen, eine andere Art des Wirtschaftens, des Umgangs mit Objekten und Gefühlen. Die Mutter arbeitet in einem Beschaffungsinstitut. Sie ist, sagt der Sohn, selber ein Beschaffungsinstitut. Er ist mehr mit den Kumpels von der Müllabfuhr zusammen.

Beschaffung und Entsorgung, das ist schon die ganze erzählerische Ökonomie des Films. Der zu Grunde liegende Roman, ein Kultstück von Hallgrimur Helgason (demnächst auch auf Deutsch, im Verlag Klett-Cotta), bietet am Ende eine individuelle Preisliste, von Hertha Berlin, 150 Kronen, bis Pamela Anderson, 4700000 Kronen.

Lola gibt immer stärker den Ton an, immer wieder klingt im Soundtrack der Song an, der ihren Namen trägt. Und Victoria Abril, die man aus den Filmen von Pedro Almodóvar kennt, ist in Island so wenig fehl am Platz wie ein Kaktus als Weihnachtsbaum. Bloß keine Tragödie, ist ihr Prinzip, als es um ihre Liebe zu Hlynurs Mutter geht und um die Nacht geht, in der sie geschwängert wurde: "Ich war betrunken. Du warst betrunken. Also was ist das Problem? ... Get real. Wake up." Vielleicht, räsoniert Lola, ist Sex nichts für Männer.

Der Regisseur Kormákur kommt vom Theater, aber er weiß, das Kino ist primär ein strenges Instrument der Verhaltensforschung - natürlich sind die Wurzeln dieser Wissenschaft immer auch voyeuristisch: "Wie treiben es die Dänen? Haben alle Schwarzen einen großen? Die Japaner einen kleinen? Wie kommt es Moslemfrauen? Kommt es ihnen überhaupt? Wie blasen Jüdinnen? Hat das schon mal jemand untersucht? Vergleichende Sexualwissenschaft. Keine Bücher mit Titeln wie The Jewish Blow Job, Coming East and West, Fifty Years of German Fingering, Fist-Fucking in Ancient Greece, Getting Wet Down Under .. ."

Mit einem Selbstmord fing es an, im Eissturm auf einem weißen Berggipfel, aber das war schon mit so pathetischem Gestus ausgeführt, dass man weiß, es kann kein Ende sein. Denn das Motto anfangs war "U can't B dead all the time", vom New Yorker Collage-Künstler Cary Leibowitz.

101 REYKJAVÍK, Island 2000 - Regie und Buch: Baltasar Kormákur. Nach dem Roman von Hallgrimur Helgason. Kamera: Peter Steuger. Musik: Damon Albarn, Einar Ørn Benediktsson. Schnitt: Skule Eriksen, Sigvaldi J. Kárason. Mit: Hilmir Snær Gudnason, Victoria Abril, Hanna Maria Karlsdóttir, Baltasar Kormákur, Thrudur Vilhjalmsdottir. Kinowelt, 93 Minuten.

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