Kino: Natur-Dokumentation "Unsere Erde":In 99 Minuten um die Welt

Ein atemberaubendes Meisterwerk: Mit spektakulären Kamerafahrten und aus völlig neuen Perspektiven zeigt der Film "Unsere Erde" Landschaften und Tiere.

Juan Moreno

Nein, er habe keine Angst, in ein Flugzeug zu steigen. Nicht in Nepal, nicht in Papua-Neuguinea, nirgendwo, sagt Mark Linfield, der Regisseur. Nepal, Papua-Neuguinea, eigentlich fast alle Länder, in denen er für seinen Film gedreht habe, seien sehr arm. Und etwas habe er in den Jahren als Dokumentarfilmer gelernt, in armen Ländern gebe es nur wirklich gute Piloten. Keine Ausnahme. "Die schlechten sind alle tot."

Kino: Natur-Dokumentation "Unsere Erde": Mit beispiellosem Aufwand sind den Regisseuren einmalige Aufnahmen gelungen.

Mit beispiellosem Aufwand sind den Regisseuren einmalige Aufnahmen gelungen.

(Foto: Foto: Universum Film)

Mark Linfield ist ein lustiger Kerl und einer der beiden Regisseure des Dokumentarfilms "Unsere Erde", der bei uns nächste Woche (Sprecher: Ulrich Tukur) in die Kinos kommt. Ein sympathischer dunkelhaariger Mann, der einen blau-gestreiften Pulli, etwas zu kurze Jeans und etwas zu bunte Socken trägt, und in seinem winzigen Büro bei der BBC in Bristol sitzt.

In den Regalen stehen Atlanten, ein paar Ordner, in der Ecke ein alter Fernseher und eine nicht sehr schöne, schmiergrüne Couchgarnitur. Das Büro ist klein und sieht nach öffentlich-rechtlichem Fernsehen aus. Es gehört zur Natural History Unit (NHU), der Naturfilm-Abteilung der britischen BBC.

Die NHU ist im vergangenen Jahr 50 geworden, und ist die weltweit größte Produktionsfirma für Fernseh- und Radio- Naturdokumentationen. Ein weißer schlichter Altbau, mit hohen Decken, verwirrenden Gängen, National-Geographic-Fotos an den Wänden und dickem, flaumigem Teppich, wie ihn sich vermutlich nur Briten ins Büro legen. Genau hier ist die teuerste Naturdokumentation aller Zeiten entwickelt worden, und Mark Linfield, der 39-Jährige, mit den etwas zu kurzen Hosen, war einer von zwei Chefs.

"In gewisser Weise ist es ein völlig verrücktes Unterfangen", sagt Linfield. So kann man das durchaus sehen. Fünf Jahre Produktionszeit, mehr als 4000 Drehtage, 206 Drehorte, 250 Tage Luftaufnahmen, 40 Kamerateams, tausend Stunden Rohmaterial. Sogar im Weltraum wurde gedreht, ein japanischer Astronaut machte Aufnahmen aus der Raumstation ISS heraus.

Mark Linfield und sein Co-Regisseur Alastair Fothergill haben für "Unsere Erde" und die Fernsehserie, die aus dem Material entstanden ist, mehr als 47 Millionen Euro ausgegeben. Der Film möchte das abschließende Porträt unseres Planeten sein. In 99 Minuten soll alles Wichtige gezeigt werden. Die Arktis, die Ozeane, die Taiga, die Wüste, die Berge, der Regenwald, der Balztanz des Paradiesvogels, alles, was schön ist, alles, was unseren Planeten so besonders macht, alles, was die Menschheit gerade mit ihrem Verhalten zugrunde richtet.

Das Premierenpublikum tobte

Ungefähr so haben es Linfield und Fothergill den Geldgebern beschrieben. Unter anderem der Berliner Produktionsfirma Greenlight Media, die den Film mitfinanziert hat. Es klingt wie eine durchgeknallte Idee, etwas, an dem man nur scheitern kann, weil es so groß und so anmaßend ist, ganz gleich, wie viele Millionen Euro, wie viele Kamerateams oder wie viele Drehtage man hat. Greenlight und die BBC besorgten das Geld, und Linfield und Fothergill sorgten dafür, dass sie es nicht bereuen sollten.

In den Ländern, in denen der Film bereits angelaufen ist, schreiben die Zeitungen, dass sie so etwas noch nicht gesehen haben. Als vor einigen Monaten "Unsere Erde" bei den Filmfestspielen in San Sebastián Weltpremiere hatte, tobte das Premierenpublikum. Minutenlang gab es Applaus. In Frankreich und in Spanien war der Film ein Kassenerfolg. Gerade ist er in Japan angelaufen. "Unsere Erde" schoss direkt auf Platz eins, vorbei an Will Smith und seinem "I am Legend".

"Ich wollte die Leute an Orte bringen, die sie so noch nie gesehen haben, ihnen Tiere so zeigen, wie man sie vorher noch nicht gesehen hat. Man macht sich keine Vorstellung, wie schwer das in unserer Zeit geworden ist. Die Leute waren doch schon überall", sagt Mark Linfield.

Tiere, die Geschichten erzählen

Dokumentarfilmer im 21.Jahrhundert haben ein Problem. Man muss sich das ein bisschen wie bei Leistungssportlern vorstellen, die Weltrekorde erzielen wollen. Jedes Jahr setzt irgendeiner die Messlatte höher. Früher reichte es aus, einfach ein paar große Tiere zu zeigen. Große Zähne, Gebrüll, Musik. Ende. Es war genug, über die Serengeti zu fliegen oder wie Cousteau im Ozean zu tauchen. Niemand hatte Giraffen, Wale oder weiße Tiger gesehen. Die erste Zeit ging das gut. Menschen schauen sich gerne Tiere an, das muss in unserer Natur liegen. Bald reichten lautes Gebrüll und lange Zähne nicht mehr.

Die Zuschauer langweilten sich, und die Auftraggeber in den Sendern verlangten nach mehr Spektakel. Die Tiere mussten etwas bieten, sie durften nicht nur einfach da sein. Sie mussten sich fortpflanzen, das war das Mindeste. Besser noch, sie kämpften, noch besser, sie fraßen sich gegenseitig. Seit einigen Jahren war auch das nicht mehr genug. Die Tiere mussten plötzlich eine Geschichte erzählen, und zwar so spannend, dass wir nicht umschalten, was nicht so leicht ist. Die Natur musste sich anstrengen, wenn man ihr Beachtung schenken sollte.

Leute wie Luc Jacquet, der "Die Reise der Pinguine" gemacht hat, oder Jacques Perrin, der Fluggänse mit einem Flugdrachen für den Film "Nomaden der Lüfte" begleitet hat, taten genau das. Sie ließen die Tiere Geschichten erzählen, und darum ist seit einigen Jahren der Naturfilm auch wieder fürs Kino interessant. Dabei hat sich allerdings eines nicht geändert. Wie schon seit Beginn der Tierdokumentation herrscht noch immer ein großer Wettbewerb. Wer hat Bilder, die vorher niemand hatte? So einfach ist das.

Der Erste, der einen Braunbären beim Tauchen filmt (der deutsche Tierfilmer Andreas Kieling hat das kürzlich geschafft), der Erste, der einen Kampf zwischen mit Stöcken bewaffneten Schimpansen und einer Wildkatze beobachtet (das nächste Projekt Linfields), der Erste, der einen Riesenkraken zeigen kann (Fothergill hat es drei Monate vor der Küste Neuseelands versucht und ist gescheitert).

Hochgeschwindigkeitsbilder

Wenn man sich den Film "Unsere Erde" von Linfield und Fothergill als einen Hundert-Meter-Lauf vorstellt, und an den Wettkampf zwischen den Naturfilmern denkt, dann sind die beiden gerade die Strecke unter acht Sekunden gelaufen. Da hängt jetzt die Latte für die anderen.

Zum ersten Mal haben Linfield und Fothergill filmen können, wie Eisbären in der Natur aus dem Winterschlaf erwachen. Das ist sehr schwierig, weil man nicht weiß, wo sich die Eisbärmutter im Oktober oder November eingegraben hat, um ihre Jungen zu bekommen. In "Unsere Erde" wird zum ersten Mal eine komplette Jagdszene von Wölfen gezeigt, die Karibus verfolgen. Dafür musste das Team eine Spezialkamera benutzen, die es ermöglicht, aus mehr als einem Kilometer Entfernung Nahaufnahmen zu machen. Sie haben als Erste eine Hochgeschwindigkeitskamera außerhalb eines Studios benutzt.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, warum der Film beklemmend endet.

In 99 Minuten um die Welt

Damit wurde die Szene mit dem weißen Hai gedreht, der einen Seelöwen jagt. Der Hai war so nett, kurz nach dem Zubeißen komplett aus dem Wasser zu springen, was durch diese Kamera, die 2000 Bilder in der Sekunde macht, beeindruckend aussieht. Besonders schwierig war es offenbar, den Balztanz der Paradiesvögel zu filmen. Durch die vielen Bäume war es auf dem Dschungelboden, wo das meist zu sehen ist, einfach zu dunkel. Eine neue, extrem lichtempfindliche Kamera konnte diesen absurden und wirklich sehr lustigen Balztanz zum ersten Mal in guter Qualität zeigen.

Filmende Matschstiefel-Biologen

"Vier Dinge sind entscheidend, wenn man so einen Film drehen möchte. Planung, Instinkt, Glück und Ressourcen. Was bringt es, wenn Ihr Instinkt Ihnen sagt, dass Sie vier Wochen brauchen für die Szene, und Ihre Ressourcen sagen, dass in drei Tagen kein Geld mehr da ist."

Mark Linfield ist stolz auf seinen Film. Er macht das seit 20 Jahren. Eigentlich wollte er Biologe werden, merkte aber während des Studiums, dass er gern Tiere fotografierte. Irgendwann fing er an, die Tiere zu filmen, dann war es nicht mehr weit zur NHU. Bisher hat Linfield meist kleinere Dokumentationen über Affen gedreht. "Mein Spezialgebiet".

Wenn er Interviews gibt, was er in letzter Zeit häufiger machen muss, vergisst er fast nie zu erwähnen, dass er vermutlich "dank meiner Arbeit der glücklichste Mensch der Welt" ist. Und anders als bei den meisten anderen Regisseuren, die das auch von sich behaupten, glaubt man ihm das. "Wissen Sie, was Naturfilmer von anderen Filmemachern unterscheidet? Das klingt jetzt seltsam, aber Naturfilmer sind nett. Richtig nett. Leute, die Tiere lieben, die die Natur lieben, einfach Leute. Ich glaube, das ist ein bisschen anders als in anderen Bereichen des Showbusiness."

Bei der NHU arbeiten 200 Leute, viele von ihnen "filmende Matschstiefel-Biologen", wie Linfield sie nennt. Es gibt ein klares Anforderungsprofil, um hier zu arbeiten. Erst die Liebe zur Natur und zu den Tieren. Viele Mitarbeiter haben Biologie oder Zoologie studiert. Dann kommt die Liebe zum Film, dann die wichtige Fähigkeit, einen Dreh zu organisieren und das Budget zu halten. "Das ist die Reihenfolge."

"Als Tierfilmer kannst du dich nicht aufs Glück verlassen"

Alastair Fothergill, der eine Etage unter Linfield sitzt und ein etwas ambitionierteres Zimmer hat, kennt die Reihenfolge, auch er hat sich an sie gehalten. Er hat Zoologie in Durham studiert, noch als Student seinen ersten Film über das Okawango-Delta gemacht, und kam 1983 zur NHU. Zehn Jahre später war er der Leiter. Er drehte Serien und Filme fürs Fernsehen, beschloss, wieder als Regisseur zu arbeiten, und brachte vor einigen Jahren den ersten BBC-Naturfilm ins Kino.

"Ohne ,Deep Blue' hätte es ,Unsere Erde' nicht gegeben", sagt Fothergill, ein 47 Jahre alter, langsam sprechender Mann, der nach britischem Landadel aussieht. "Deep Blue" zeigte spektakuläre Unterwasseraufnahmen. Im Studiengang Meeresbiologie an der Universität Southhampton gehört er zum Lehrplan. "Bei diesem Projekt habe ich gelernt, wie man Naturfilme in solchen Dimensionen in den Griff bekommt."

Als Fothergill und Linfield vor fünf Jahren mit den Planungen für "Unsere Erde" anfingen, machten sie es wie die Leute in Hollywood. Sie schrieben ein Drehbuch und später ein Storyboard. Man müsse sich das vorstellen wie für einen Werbespot für ein Auto, sagt Fothergill. Bei der Szene, in der eine Gruppe Kraniche über den Himalaya fliegt, sollte der Kampf dieser Tiere gegen die starken Winde auf 8000 Metern Höhe gezeigt werden. Die Tiere müssen den ganzen Tag kämpfen, immer und immer wieder versuchen sie es, oft scheitern sie an mehreren Tagen hintereinander.

Linfield und Fothergill malten also ein Storyboard und drehten Einstellung nach Einstellung. Sie hatten alles vorher geplant. Sie wussten, wann die Tiere normaleweise in der Nähe des Mount Everest waren, sie wussten, dass sie mehr als ein Flugzeug brauchen würden, und sie wussten, dass ein hochrangiger Offizier beim nepalesischen Militär gern Golf spielt. Sie bekamen die Aufklärungsflugzeuge, die in dieser Höhe filmen konnten, und der Offizier eine Golfausrüstung. "Als Tierfilmer kannst du dich nicht aufs Glück verlassen. Du machst dir das Glück, das du brauchst, selbst. Das meiste ist gute Planung. Es gibt eine Menge falsche Vorstellungen über diesen Beruf."

Und es schmelzen die Eisschollen

Zum Beispiel die Sache mit der Gefahr. Viele bei der NHU schwören, dass so ziemlich das Gefährlichste an einem Sechs-Wochen-Dreh in Afrika die Fahrerei sei. Nicht die Tiere. "Um genau zu sein, die Fahrt auf der M4 von Bristol nach London", sagt Fothergill. Das einzige Tier, wovor alle ein wenig Angst zu haben scheinen, sind Eisbären. Männliche Eisbären sind für die Filmemacher die einzigen Tiere, die Menschen jagen.

Ein anderes Vorurteil ist die Frage nach der Warterei, und ob das Warten nicht langweilig sei, werden die beiden sehr oft gefragt. Fothergill und Linfield haben viele Tage damit verbracht, darauf zu warten, dass ein Tier etwas tut, was die beiden ins Drehbuch geschrieben hatten. Manchmal passierte es, manchmal nicht. "Aber es ist nie langweilig, weil man immerzu überlegt, ob man etwas falsch gemacht hat, ob man am richtigen Ort ist. Es ist spannend, weil man es nur planen, aber nicht kontrollieren kann."

Eine der beeindruckendsten Passagen im Film ist die Schlussszene. Ein Eisbär schwimmt im Wasser. Um ihn schmelzen die Eisschollen. Er kann nicht mehr auf ihnen stehen, er muss schwimmen. Auf der Erde wird es immer wärmer, das Eis schmilzt, ohne Eis, auf dem sie Robben jagen können, können Eisbären nicht überleben. Fünfzehn Sekunden, die völlig klarmachen, was der Mensch diesem Planeten antut. Es ist beklemmend. Es ist traurig. Es stand in keinem Drehbuch.

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