Kino:Meine Chaoseltern und ich

Lesezeit: 3 min

"Schloss aus Glas", Jeannette Walls dramatisch komplexe Kindheitserinnerungen, kommen leider nur stark reduziert und weichgezeichnet ins Kino.

Von Annett Scheffel

Das Idiom vom kalten Wasser, in das man geworfen wird, gibt es auch im Englischen. Mit dem feinen Unterschied, dass es hier das "deep end" ist - das tiefe Ende des Schwimmbeckens. Rex Walls nimmt das allzu wörtlich, als er seine panisch nach Luft schnappende Tochter Jeannette immer wieder dort hineinstößt, um ihr das Schwimmen beizubringen. Die Kamera taucht in dieser verstörenden Szene jedes Mal mit dem Mädchen hinab in die poolblaue, von Luftblasen durchstobene Beklemmung unter Wasser. Es ist bei Weitem nicht der bedrohlichste Moment in Jeannettes Kindheit, aber eine passende Metapher für Rex' Erziehungsphilosophie: Die Tochter, sagt er, solle nicht die Art von Mensch werden, die sich stets ängstlich an den Beckenrand klammere.

Auf der Flucht: Familie Walls zieht quer durch die USA. (Foto: Studiocanal)

Familie ist eine komplizierte Angelegenheit. Besonders, wenn man wie im Fall von Jeannette Walls die Liebe zu den Eltern, die für die verkorkste Kindheit in Armut und Schmutz verantwortlich sind, nie ganz abschütteln konnte. 2005 beschrieb die amerikanische Schriftstellerin diese zutiefst verworrene Familien- und Gefühlskonstellation in einer Autobiografie. "Schloss aus Glas" erzählt erschütternd unsentimental und mit fesselnder Klarsicht von ihrer Kindheit, in der sie mit ihren Eltern und drei Geschwistern quer durch Amerika vagabundierte. Das Buch verkaufte sich, übersetzt in 31 Sprachen, mehr als fünf Millionen Mal. Man möchte diese hochemotionale Geschichte einer halb hippiesken, halb verwahrlosten Aussteigerfamilie eigentlich unbedingt auf der Leinwand sehen - noch dazu mit so exzellenten Schauspielern wie Woody Harrelson, Naomi Watts und Oscarpreisträgerin Brie Larson. Doch der Regisseur Destin Daniel Cretton schafft es dank in den besten Momenten zwar, die Tragik von Walls' Geschichte herauszuarbeiten, scheitert aber an den psychologischen Feinheiten der Buchvorlage.

Crettons Film wechselt zwischen zwei Zeitsträngen: Der Gegenwart der erwachsenen Jeannette, die 1989 als erfolgreiche High-Society-Kolumnistin in New York arbeitet, und Rückblenden in ihre Kindheit. In diesen flieht das schräge Elternpaar Rex und Rosy Mary vor unbezahlten Rechnungen von Ort zu Ort. Mal lenken sie den verbeulten Kombi mitten unter den weiten Himmel der Wüste, mal zu halbverfallenen Bretterbuden ohne Wasseranschluss. Es ist ein Leben zwischen Abenteuerlust und dumpfer Mittellosigkeit, geprägt vom aufbrausenden Charakter des Vaters.

Rex ist ein Trinker und Träumer, der beste und der schlimmste Vater gleichzeitig: ein Fantast, der zu Weihnachten Sterne verschenkt und dann das Geld versäuft. Woody Harrelson spielt diesen widersprüchlichen Mann mit wunderbarer Raserei: Unermüdlich malt er mit seinem vorstehenden Kiefer wie auf kleinen Kieselsteinen, und der starre Blick oszilliert zwischen dem tollkühnen Charme eines Freigeistes und der stillen Scham über die eigene Unzulänglichkeit.

Mit aller Wucht drängt die chaotische Vergangenheit plötzlich wieder das Gehäuse der aufpolierten Existenz, die sich die erwachsenen, von Brie Larson gespielte Jeannette aufgebaut hat. Ihr Verlobter ist Investmentbanker und das genaue Gegenteil des Vaters: wohlhabend, angepasst, akkurat. Durch das Fenster eines Taxis beobachtet sie zwei in Müllcontainern wühlende Gestalten, in denen sie Rex und Rose Mary wiedererkennt.

Wie sich dieses Leben wohl wirklich angefühlt hat? Die Antwort bleibt der Film schuldig

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Es ist das komplexe Gemenge von Wut, Verständnis, Liebe und Vergebung, aus dem das Buch seine Kraft bezog, während Jeannette versucht, in ihrem neuen Leben einen Platz für ihre Vergangenheit zu finden. Denn im Spannungsfeld zwischen Vater und Tochter brechen existenzielle Fragen hervor: Was ist wichtig im Leben? Die schöne Wohnung oder der selbstbestimmte Alltag? Wie viel individuelle Freiheit verträgt sich mit den Bedürfnissen einer Familie? Aber genau bei diesen Motiven, mit denn das Buch die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle und Sehnsüchte ausleuchtet, beginnen die Probleme des Films.

Allzu mühsam und eindimensional konstruiert Cretton den Gegensatz zwischen Kindheit und geordneter Gegenwart. Vielleicht liegt es daran, dass "Schloss aus Glas" seine erste große Studioproduktion ist, dass er diese verfahrene Geschichte pflichtbewusst auf die süßlichen Mechanismen eines Hollywood-Familiendramas herunterzukochen versucht. So bleibt Jeannette als zentrale Stimme im Film seltsam unscharf: Wie auf einer verwackelten Fotografie scheinen die Konturen des Kindes und der erwachsenen Frau nie übereinander zu passen, obwohl sich Brie Larson sichtlich um emotionale Zwischentöne bemüht. Oft blickt man fragend auf die Szenen des Films: Wie sich dieses Leben wohl wirklich angefühlt hat? Die Antworten darauf bleibt Cretton schuldig - und versucht stattdessen, die Enden des Erzählfadens zusammenzuführen, indem er die Geschichte auf ein Quasi-Happy-End hin verdichtet. Spätestens, wenn im Abspann die Bilder aus dem Familienalbum der echten Jeannette Walls vorüberziehen, ahnt man: Die Wirklichkeit muss komplizierter gewesen sein.

The Glass Castle , USA 2017 - Regie: Destin Daniel Cretton. Buch: Cretton, Andrew Lanham. Kamera: Brett Pawlak. Mit: Brie Larson, Woody Harrelson, Naomi Watts . StudioCanal, 128 Minuten.

© SZ vom 26.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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