Kino:Land der schwarzen Listen

Kino: Terror bei der Friedensdemo - der Film "Ah" von Mustafa Ünlü handelt vom schwersten Anschlag in der Türkei, 2015 vom IS in Ankara verübt.

Terror bei der Friedensdemo - der Film "Ah" von Mustafa Ünlü handelt vom schwersten Anschlag in der Türkei, 2015 vom IS in Ankara verübt.

(Foto: Festival)

Das Filmfestival in Istanbul bemüht sich, den eigenen Ansprüchen weiterhin gerecht zu bleiben - leichter wird das gerade nicht.

Von Amin Farzanefar

Auch diesmal kam es zum Eklat. Dass der Spielfilm "Zer" von Kazım Öz überhaupt im Wettbewerb des Filmfestivals in Istanbul lief, kann durchaus als politisches Zeichen verstanden werden. "Zer" greift die Geschichte des Massakers von 1938 auf, als der Staat einen Kurdenaufstand in Dersim blutig niederschlug. Mitten im Film gab es aber dann eine Schwarzblende, Zwischentitel verkündeten, einige Szenen seien vom türkischen Kultusministerium nicht zugelassen worden. Ein Akt der Zensur, wie es ihn bereits 2014 auf dem Filmfestival von Antalya und 2015 auch in Istanbul gegen kritische oder prokurdische Dokumentarfilme gegeben hatte.

Ein Filmfestival in Istanbul während des Ringens um die Macht des Präsidenten: Gemessen an den politischen Erschütterungen bemühten sich die Organisatoren, den Anspruch der letzten Jahre und Jahrzehnte beizubehalten - mit vielen internationalen Sektionen, brisanten Themen, und durchaus auch mehreren deutschen Filmen. Es war unübersehbar, dass dem Festival mehrere Förderer abgesprungen waren, darunter der größte Sponsor Akbank; dies mag man mit der schlechten Konjunktur begründen. Vor allem dürfte es an der Vorsicht mancher Firmen liegen, unter den gegebenen Umständen ein unabhängiges und kritisches Festival zu unterstützen.

Zudem waren wesentlich weniger internationale Gäste anwesend als früher: Viele blieben wegen Sicherheitsbedenken fern, und von Ausnahmen abgesehen, gab es kaum substanzielle inhaltliche Festivalberichterstattung - auch auf türkischer Seite fehlte der kritische Diskurs, die tägliche Nachlese und Analyse der neuen Filme, welche die größte Kulturveranstaltung des Landes erst zu einem Ereignis macht.

Ehemalige Publikumslieblinge sind inzwischen einer Hexenjagd in den Medien ausgesetzt

Das türkische Programm wirkte so divers, politisch und mutig, wie man es vom Festival seit jeher kennt und erwartet. Im Dokumentarfilmbereich zeigte etwa "Mother Derdo and the Walnut Tree" ("Derdo Ana ve Sviz Ağacı", Serdar Önal) den Kampf einer alten Armenierin um ein Grundstück, das der Familie im Völkermord von 1915 (der sich nächste Woche zum 101. Mal jährt) abgenommen wurde. "Ah" von Mustafa Ünlü widmete sich dem - vom IS verübten, aber nicht restlos aufgeklärten - Terroranschlag 2015 in Ankara, der 102 Todesopfer forderte. "The Red Green" ("Yeşil Kırmızı") porträtierte die Fußballmannschaft im kurdischen Diyarbakır, die in der Liga einen richtigen Lauf hatte, aber bei Auswärtsspielen rassistisch angefeindet wurde. Kurdische Themen gab es viele: Bülent Öztürks anfangs quälend langsames, später tief bewegendes Spielfilmdebüt "Blue Silence" ("Mavi Sessizlik") enthüllt in einer kunstvoll verschachtelten Rückblende die Geschichte eines traumatisierten Polizisten, der in den Neunzigern an Liquidierungsaktionen in den kurdischen Gebieten beteiligt war. Die frontale Kritik an der verheerenden Kurdenpolitik des türkischen Staates ging wohl ohne Zensur durch, weil die Verantwortlichen für die Gewaltexzesse hier klar als Kemalisten gekennzeichnet sind - die Islamisten sind da aus dem Schneider.

Trotz deutlicher Themensetzung und drastischer Bilder bemängelten einige türkische Filmemacher, das Festival hätte sich bereits früher von verschiedenen Zensurakten deutlicher distanzieren sollen, und blieben dem Event aus Protest fern. Dennoch: Im Großen und Ganzen bildet das Festival die gesamte Breite der Kino-Produktion ab. Und dort, auf der Produktionsebene, liegt das eigentliche Problem: Man hört häufig und schon seit Längerem von schwarzen Listen bei der Förderungsvergabe und vom wachsenden Einfluss des Kultusministeriums auf die eigentlich unabhängigen Entscheidungsgremien. Seit dem Putschversuch stocken viele Projekte oder werden auf eigene Kosten und ohne Drehgenehmigung umgesetzt. Generell ist die Filmszene so polarisiert wie auch das Land: in Günstlinge wie etwa Semih Kaplanoğlu, der einen sonderbaren Zug in Richtung islamische Mystik bestiegen hat, oder Kutluğ Ataman, der aus persönlicher Abneigung gegen die Gezi-Protestler von 2013 die Nähe zur Macht suchte. Ehemalige Publikumslieblinge sind inzwischen einer regelrechten Hexenjagd ausgesetzt, als vermeintliche Terrorunterstützer - die Medien sind ja gleichgeschaltet. Dazwischen ducken sich die Unabhängigen weg und suchen einen eigenen Weg.

Dieser Weg kann in eine neue filmische Sprache führen: Pelin Esmer, wichtig und beliebt durch ihre politischen und sozialen Themen, übte sich mit "Something useful" in altmodischer Lyrik, Kamerafinesse und Nostalgie - ist das eine Flucht ins innere Exil? Schon in den letzten Jahren war eine Tendenz zur indirekten Erzählung, zur Andeutung stärker geworden, es gab beispielsweise Kinderfilme, die Autorität hinterfragen; die Perspektive der Entmündigten zu nutzen ist eine Praxis, die man auch aus dem iranischen Kino der stark zensierten Achtzigerjahre kennt.

Manchmal bleibt den Filmschaffenden nur noch der Weg ins Ausland

Ceylan Özgün Özçelik hat ihre Dystopie "Inflame" ("Kaygı") mit dem Sundance Lab entwickelt und erzählt von der Gegenwart als Thriller, der sich auf die Neunzigerjahre bezieht: In die Nachrichtenabteilung eines Fernsehsenders versetzt, staunt die Cutterin Hasret nicht schlecht, wie manipulativ man Meldungen zusammenschneidet, diese mehrere Tage vor- oder zurückdatiert. Aus dem Fernseher hört man "Wir haben nichts gegen Demokratie und Meinungsfreiheit, aber wehe denen, die sie missbrauchen." Nicht nur der Zuschauer, auch die Protagonistin hat hier ein Déjà-vu - irgendwann erscheint Hasret als Opfer des Brandanschlages von Sivas, bei dem 1993 35 alevitische Intellektuelle und Kulturschaffende während eines Kulturfestivals in ihrem Hotel verbrannten, vor laufenden Fernsehkameras, unter den Augen von 15 000 johlenden Islamisten. Dass auch dieser Film das Siegel des Kultusministeriums trug, war eine der Überraschungen des Festivals.

Manchmal bleibt den Künstlern nur der Weg ins Ausland. Kritische Filmschaffende kommen nur noch selten an Gelegenheitsjobs im Fernsehen; man zieht aus der kostspieligen Wohnung aus, die Jüngeren kriechen bei den Eltern unter, um Miete zu sparen. Viele wägen da ihre Chancen für einen Neuanfang in Deutschland oder den Niederlanden ab, der ihnen womöglich den Weg zurück versperrt. Wer bleibt, beschränkt sich, macht seine Arbeit und klagt nicht groß.

Die Preisverleihung bot schließlich eine schonungslose Momentaufnahme: Waren die Festivalgäste früher mit Bussen zur Abschlussgala ins riesige "Lütfi Kırdar Convention and Exhibition Centre" kutschiert worden, so fand man sich nun im zweiten Untergeschoss des Soho-Hotels wieder, in einem kleinen Salon, ohne viel Glamour. Auch das mag am Geldmangel liegen. Angesichts des knappen Ausgangs des Referendums wirft dieses Bild aber dennoch Fragen auf: Gründete sich hier eine neue Résistance gegen die herrschende Meinungsdiktatur, oder versteckte sich das letzte mutige Häuflein?

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: