Kino:Kinderblickwinkel

Kino: Staunen lernen mit einem Neunjährigen: Im Film "Rauf" will der titelgebende Junge die Farbe Pink ausfindig machen - als Abwechslung zum Alltagsgrau.

Staunen lernen mit einem Neunjährigen: Im Film "Rauf" will der titelgebende Junge die Farbe Pink ausfindig machen - als Abwechslung zum Alltagsgrau.

(Foto: Bariş Kaya)

Türkische Filmtage im Gasteig

Von Luisa Seeling

Die 28. Türkischen Filmtage beginnen mit sehnsuchtsvollen Kinderaugen. Der kleine Ali steht vor einem Schaufenster, nur eine Glasscheibe trennt ihn vom Objekt seiner Träume: einem Kinderrad, hellblau wie die viel zu große Wollmütze, die ihm über die Ohren rutscht. Gedankenverloren umfassen Alis Hände einen unsichtbaren Lenker, sein Bein imitiert das Treten in die Pedale. Das Rad, kaum einen halben Meter entfernt, ist unerreichbar für ihn. Denn Ali, der Held des Eröffnungsfilms "Mavi Bisiklet", ist bitterarm. Seine Mutter verkauft selbstgestrickte Kleidung, der Vater ist tot, umgekommen unter mysteriösen Umständen. Nach der Schule hilft der Zwölfjährige in einer Autowerkstatt aus, er muss zum Familieneinkommen beisteuern, vor allem aber spart er - auf das blaue Fahrrad, das dem Film seinen Titel gibt.

Der Regisseur Ümit Köreken erzählt eine zeitlose Geschichte von Armut und von Träumen, die größer sind als materielle Not, angesiedelt in einer zentralanatolischen Kleinstadt. Zugleich ist sein Film hochpolitisch. Er hat ihn 2015 fertiggestellt, also lange vor dem gescheiterten Militärputsch im Juli 2016. Trotzdem fällt es schwer, "Mavi Bisiklet" nicht als Kommentar auf die politische Situation in der Türkei zu lesen. Ali erlebt in seinem Dorf Dinge, an denen das Land auch im Großen leidet: Vetternwirtschaft und Korruption, ein zunehmend autoritäres Klima, Einschüchterung. Der Schuldirektor herrscht über sein kleines Reich wie ein Diktator, mit Härte geht er gegen Schüler vor, die seine Autorität in Frage stellen. Einmal lässt er die Kinder in der Kälte antreten wie Soldaten, um Proben von ihrer Handschrift zu nehmen. Er will den Urheber eines aufrührerischen Graffiti ausfindig zu machen.

Denn der kleine Ali hat zur Rebellion geblasen: gegen die übermächtigen Kräfte, die in den - aus seiner Sicht - gerechten Lauf der Dinge eingreifen. Schülersprecherin Elif, seine heimliche Liebe, muss ihr Amt an einen neuen Schüler abtreten, der einen einflussreichen Onkel hat. Um dieses Unrecht zu bekämpfen, wird Ali sogar das Geld opfern, von dem er das Fahrrad kaufen wollte. Eine Feier der Zivilcourage - dafür gab es 2016 auf dem Filmfestival in Antalya Preise für den besten Film, die beste Regie und das beste Drehbuch.

In auffallend vielen der gezeigten Filme spielen Kinder die Hauptrolle. Auch "Rauf" (Regie: Soner Caner und Barış Kaya) nimmt den Blickwinkel eines Neunjährigen ein. Der kleine Rauf lebt in einem Dorf im Südosten der Türkei, harte Arbeit und der Kurdenkonflikt prägen den Alltag der Menschen. Caner und Kaya zeigen keine Soldaten, keine Panzer, doch der Krieg ist allgegenwärtig. Nachts erwacht Rauf vom Lärm der Maschinengewehrsalven, tagsüber sprechen die Dörfler über junge Männer und Frauen, die "in die Berge" gegangen sind - um sich der PKK anzuschließen, den kurdischen Aufständischen.

Rauf geht bei einem Schreiner in die Lehre und baut Särge für die Gefallenen. Für Zana, die 20-jährige Tochter des Schreiners, will er die Farbe Pink ausfindig machen - kein leichtes Unterfangen in einem Dorf, in dem das Grau der Hütten und das Weiß des Schnees die dominierenden Farben sind. "Rauf" ist wunderschön fotografiert, mit durchkomponierten, fast wie gemalten Bildern. Am Ende wird Rauf die Farbe Pink finden, nicht im Dorf, nicht in der Stadt, sondern im Frühling auf einem Hügel. Doch da hat Zana der Ruf der Berge längst ereilt.

Viele der gezeigten Filme spielen in karge Landschaften und abgelegenen Dörfern, weitab von den urbanen Zentren des Landes. "Abluka" (Wahnsinn) hingegen spielt in Istanbul, dem pulsierenden Herz des Landes, und wohl noch nie sah die Millionenstadt so albtraumhaft, kaputt und düster aus wie im apokalyptischen Werk des Regisseurs Emin Alper. 20 Jahre war Kadir im Gefängnis, nun wird er entlassen, muss aber im Auftrag der staatlichen Terrorabwehr spitzeln und am Stadtrand von Istanbul den Müll nach Sprengstoffspuren durchwühlen. Immer wahnhafter wird Kadirs Misstrauen, das sich auch gegen den Bruder richtet - ein klaustrophobisches Psychodrama und eine Parabel auf die Auswüchse des Antiterrorkampfes.

In Venedig gewann Alpers Film den Spezialpreis der Jury. Doch türkische Art-House-Produktionen haben es schwer, wie schwer, das zeigt der Dokumentarfilm "Kapalı Gişe - Only Blockbusters Left Alive" des Regie-Quartetts Senay Aydemir, Evrim Kaya, Kaan Müjdeci und Fırat Yücel. Formal augenzwinkernd, aber in der Sache bitterernst zeigt er, warum Independent-Produktionen auf dem türkischen Filmmarkt inzwischen fast chancenlos sind: In kaum einem anderen europäischen Land ist der Filmvertrieb derart monopolisiert - 70 Prozent des Marktes bestimmen allein die drei größten Verleiher, so eine der bedrückenden Zahlen aus "Kapalı Gişe" (zu Deutsch: ausverkauft).

Ihnen gehe es um schnelles Geld, klagt eine Produzentin, ihr Desinteresse an kleineren, nicht-kommerziellen Produktionen sei einfach zum Fürchten. Ein Regisseur drückt es etwas deftiger aus: "Sie geben nicht den Arsch einer winzigen Ratte auf uns", knurrt er, auf die Situation türkischer Filmschaffender angesprochen.

Einige der preisgekrönten Produktionen, zwölf Spiel- und fünf Dokumentarfilme, sind von diesem Freitag an im Gasteig zu sehen.

28. Türkische Filmtage, Freitag, 17., bis Sonntag, 26. März, Gasteig, Rosenheimer Straße 5, Infos zum Programm: sinematurk-munchen.de

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