Kino: "City of God":Gesetze der Gesetzlosigkeit

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"City of God", Fernando Meirelles' und Kátia Lunds Filmepos aus den Favelas von Rio, will offensichtlich seine Form sprengen, um Geschichten aus dem wahren Leben zu erzählen.

TOBIAS KNIEBE

Wir blicken auf endlose Häuserreihen, bis weit in die Ferne, wo die Berge von Rio im Dunst versinken. Der Abend legt sich über die Stadt, ein Schleier aus purem Orange, der beißende Geruch von Holzkohle steht in der Luft - und aus dem Meer der Hütten steigen Erinnerungen auf. So viele Gesichter, so viele Namen, so viele Tote. Die Frau von Paraíba, wisst ihr noch? So jung und schön, und eigentlich wollte sie nur das Spiel mit der Banane ausprobieren. Dann hat sie der Alte mit Marreco erwischt, dem geilen Bock, erwischt und lebendig begraben ... Oder Bené und seine Abschiedsparty. Es lief "Kung Fu Fighting" und "Sex Maschine", Bené war lässig, der lässigste Gangster der Stadt. Und Angélica, seine Freundin, sah sie nicht aus wie Ali MacGraw? Gemeinsam wollten sie abhauen nach dieser Nacht, und beinah hätten sie es geschafft. Jetzt ist er tot. So viele sind tot. Jetzt toben die Zwerge durch die Straßen, fast noch zu klein, um ihre Waffen zu halten. Aber töten, das können sie. Das Töten wird niemals aufhören, hier in der Stadt Gottes.

(Foto: N/A)

Ein Epos, ein Meisterwerk, ein unvergesslicher Film - das ist "Cidade De Deus - City of God" von Fernando Meirelles und Kátia Lund. Nimmt den großen alten Mythos des Gangsterfilms auseinander und setzt ihn noch einmal neu zusammen. Wo immer ein Regisseur mit seiner Nähe zur Gewalt Legenden gesponnen hat, Coppola mit seinen Mafiastudien, Scorsese mit seiner Jugend in den Mean Streets von New York - gegen die Wirklichkeit diese Films sehen sie ziemlich alt aus. Hier hat Paola Lins, ein Überlebender aus der brasilianischen Favela, die endlosen Geschichten seines eigenen Slums in einem Roman verdichtet: 300 Figuren auf mehr als 500 Seiten. Hier haben ein paar unerschrockene Sozialarbeiter, die mitten im Elend Theaterworkshops betreiben, hundert junge Laien ein Jahr lang trainiert, damit sie die Kids in diesem Film spielen konnten. Hier musste das Drehbuch ins Hochsicherheitsgefängnis von Bangu geschmuggelt werden, damit der regierende Drogenlord seinen Segen geben konnte. Hier jagte der Kameramann César Charlone Szenen nach, die sich so roh, flüchtig und unkontrolliert entwickelt haben wie das Leben in der Favela selbst - und als der Abend der Premiere kam, hat die Polizei den gefürchtetsten aller Gangster im Foyer festgenommen. Er wollte nur das eigene Leben im Kino sehen.

Natürlich muss dieser Film ein gewaltsamer Film sein, und natürlich hebt er die Verbindungen von Gewalt und Ästhetik, vom Töten und von der Inszenierung des Tötens nicht auf. Aber er verliert sich auch nicht darin. Ein zehnjähriger Junge lacht irr bei seinem ersten, grundlosen Amoklauf, der das Ghetto für immer verändern wird. Ein anderer Knirps wird vor die Wahl gestellt, ob er lieber in die Hand oder in den Fuß geschossen werden will. Ein dritter soll einen von zwei Freunden mit der Pistole erledigen - oder er wird selbst daran glauben.

Und schließlich muss Mane Galinha, genannt der "Stecher", die Vergewaltigung seiner Frau mit ansehen, während ein schwerer Stiefel seinen Kopf in den Staub presst. Davor ist er ein friedlicher Typ, danach wird er Krieger im schlimmsten Bandenkrieg der Stadt. Das alles wirkt sinnlos und hoffnungslos, aber irgendwann beginnt man, viel eher als beispielsweise in "Gangs of New York", so etwas wie Strukturen wahrzunehmen: den Wechsel von Krieg und Frieden, den Kreislauf der Gewalt, der wie von Darwin skizziert erscheint, die Regeln der Macht, die auch Ruhe und Sicherheit bieten können. Meirelles und Lund nutzen die gezeigte Gewalt, um wirklich einmal die Gesetze der Gesetzlosigkeit sichtbar zu machen.

Immer wieder scheint "Cidade De Deus" seine Form zu sprengen, sich in tausend Anekdoten und Erzählungen zu verlieren, von einer Figur zur nächsten zu jagen im endlosen Reigen lokaler Legenden. Aber immer wieder findet er magisch auf seinen Weg zurück, verknüpft die roten Fäden, die das Leben in der Stadt Gottes zusammenhalten. Der Erzähler ist ein Junge namens Buscapé (Alexandre Rodrigues). Einer, der eher zuschaut als handelt, dem im Ernstfall die Entschlossenheit zum Gangster fehlt und der gerade deshalb überlebt, um die Geschichte seiner Brüder und Freunde zu erzählen - am Ende sogar als Fotograf und Reporter, der mit seinen Bildern und Geschichten auch außerhalb Anerkennung findet, dem Slum entkommen kann. Jede Generation hat bereits ihre Vorbilder, und Buscapés Erzählung beginnt mit der Legende der Brüder in den Sixties, deren Taten schon unerhört schienen und doch gar nichts sind im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Damals gleicht die Siedlung einer Westernstadt, Samba liegt in der Luft, die Farben sind golden und die Kamera filmt schon mal durch den Kühlergrill eines Tanklasters auf die Desperados, die ihren Nachbarn kostenloses Benzin verschaffen - romantische Gangster und große Liebhaber, aber sie sterben schnell.

Das Jüngeren, das sind Zé Pequeno alias "Locke" und Bené - der Killer und der Styler. Sie räumen rücksichtslos auf mit den Kleindealern, werden die Funk Soul Brothers des Ghettos, die ersten großen Drogenkönige in der Stadt. Mit ihnen wachsen auch die Bilder heran, werden freier und psychedelischer, die satten Farbfilme sind noch einmal komplett durch Videomischer gejagt, nichts an diesem neuesten Neorealismus ist nur vorgefunden, alles manipuliert. Marihuana hängt in der Luft und für eine Weile auch der Traum vom Frieden. Aber schon wartet die nächste Generation: Kids, die noch jünger anfangen müssen, noch früher dem Tod ins Auge blicken. Das Kokain erobert die Szene, lässt die Bilder kälter werden, zerhackt die Schnitte und Gedanken zu Videoclips, betäubt den letzten Rest von Gewissen. Chaos bricht aus, Waffen sind plötzlich überall, die Zahl der Toten übersteigt die schlimmsten Befürchtungen. Die jüngsten Rekruten kennen kein anderes Leben mehr, sie nehmen sich, was sie kriegen können - und ein neues Terrorregime beginnt. Gern würden diese Kinder, Zwerge genannt, eine Todesliste anlegen. Das macht man so, das haben sie so von den Alten gehört. Nur schreiben können sie leider noch nicht.

Und wieder legt sich der Abend über die Stadt, ein Schleier aus purem Orange, der beißende Geruch von Holzkohle steht in der Luft - und aus dem Meer der Hütten steigt die Sehnsucht auf. Als Zuschauer hat man das Gefühl, all diese Menschen gekannt zu haben, sie verloren zu haben. Das ist vielleicht die größte Leistung des Films - dass man so tief in eine Welt eintaucht, als habe man selbst einmal dort gelebt; dass man die Menschen darin nicht mehr vergessen kann, ihre Geschichten, ihre Träume, ihre Lebendigkeit; und dass man trotzdem froh ist, einer der wenigen zu sein, die entkommen konnten.

CIDADE DE DEUS, Brasilien 2002 - Regie: Fernando Meirelles, Kátia Lund. Buch: Bráulio Mantovani. Kamera: César Charlone. Mit: Alexandre Rodrigues, Leandro Firmino da Hora, Phelipe Haagensen. Constantin, 128 Minuten.

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