Kino:Ausbeuter aller Länder, verdrückt euch!

Lesezeit: 3 min

Milo Rau hat in den kongolesischen Kriegsgebieten recherchiert und einen Film daraus gemacht.

Von Philipp Stadelmaier

Später wird Milo Rau schreiben, dass diese Szenen zum unverständlichsten gehören, was er je gefilmt habe. Leichen von Frauen und Kindern unter Planen, notdürftig mit ein paar Decken zugedeckt, das Blut klebt noch an ihnen. Es sind Aufnahmen aus dem kleinen Dorf Mutarule, entstanden im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Rau und sein Filmteam durchqueren das Dorf, umgeben von den Überlebenden und den Toten. Unverständlich ist das alles, weil auch Rau nicht erfährt, warum und wer genau in Mutarule gemordet hat.

Die Konzerne holen sich die Bodenschätze und zwingen die Bergbauern in ihren Dienst

Diese Bilder am Anfang von Raus Film "Das Kongo Tribunal" konfrontieren das Publikum mit der Realität eines jahrzehntelangen und unübersichtlich gewordenen Bürgerkrieges. Zahlreiche Milizengruppen kämpfen gegeneinander und massakrieren die Zivilbevölkerung. Nach dem Völkermord im Nachbarland Ruanda von 1996 haben drei Kongokriege und bis heute fortdauernde Kämpfe sechs bis sieben Millionen Menschenleben gekostet. Vor Raus Kamera stammelt eine traumatisierte Frau, sie habe ihre gesamte Familie verloren. Eine andere hat noch die Kraft zu fragen: "Warum haben wir hier kein internationales Gericht?" Denn obwohl Massaker und Menschenrechtsverletzungen im Kongo Alltag sind, so ist dafür niemals jemand verurteilt worden.

Diesem Missstand will Rau Abhilfe schaffen. Die Dokumentation begleitet die Vorbereitung seiner Theaterperformance, dem "Kongo Tribunal" - ein fiktives Gericht, das die Massaker und Vergewaltigungen untersuchen soll. Eine erste "Anhörung" wurde im Mai 2015 im kongolesischen Bukavu abgehalten, im Theatersaal einer alten Schule; eine zweite wenig später in Berlin. Auch wenn dieses Tribunal rein symbolisch ist, bleibt es keineswegs reine Fiktion. Den Vorsitz des Tribunals führt ein belgischer Jurist, der Chefankläger stammt aus dem Kongo, die kongolesisch-internationale Jury ist mit Anwälten, Rechtswissenschaftlern, Journalisten und Menschenrechtsaktivisten besetzt, und wenn das Gericht die Bühne betritt, ruft eine Stimme: "Erheben Sie sich", und das Publikum muss dem folgen.

Der Schweizer Theatermacher hat schon einige solche politisch-dokumentarische Theaterprojekte gemacht. In "Hate Radio" brachte er eine Radiostation auf die Bühne, die beim Völkermord in Ruanda eine große Rolle spielte, in seiner "Europa-Trilogie" erzählten die Schauspieler ihre Erlebnisse, um auf diese Weise das Porträt eines ganzen Kontinents zu entwerfen. Auch im "Kongo Tribunal" berichten die Leute, die in den Zeugenstand treten, von ihren eigenen Erfahrungen. Dabei geht es um das Massaker in Mutarule, aber auch um die Situation in Gegenden, in denen Gold und vor allem Coltan und Kassiterit abgebaut werden - sogenannte "Konfliktmaterialien", die in Computern und Smartphones verbaut werden.

Gerade die Aussagen von Kleinbergbauern erhellen, welche wirtschaftlichen Interessen in den Konflikt im Ostkongo hineinspielen. Mienenfirmen reißen sich die unfasslichen Bodenschätze des Landes unter den Nagel, ohne dass die Bevölkerung etwas davon hätte. Die Konzerne pachten Land vom Staat und zwingen die Bergbauern in ihren Dienst oder in die Arbeitslosigkeit. Sie versprechen den Aufbau von Infrastruktur, ohne dem nachzukommen. Leute werden vertrieben und enteignet. Da der Staat seine Bürger im Stich lässt, entstehen autonome Milizengruppen, was alte, aus den Kongokriegen entstandene Stammeskonflikte neu befeuert. Die Profiteure des Chaos sind die Mienengesellschaften: Anstatt gegen sie aufzubegehren ist die Bevölkerung mit Bürgerkrieg beschäftigt.

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Diese Tribunalszenen aus dem Kongo werden mit Aufnahmen gegengeschnitten, die Rau bei seinen Recherchen im Land gemacht hat, und mit der zweiten Performance in Berlin. Hier sind die "Zeugen" Wissenschaftler und Angehörige von NGOs, die den Ostkongo als Schauplatz eines globalen Verteilungskrieges umreißen, bei dem die USA, die EU und China um die Bodenschätze wetteifern.

Wie weit sind der kongolesische Staat, die Mienenkonzerne und die internationale Gemeinschaft mitschuldig an den Verbrechen im Ostkongo? Das Tribunal weist auf Zusammenhänge hin, fällt aber kein Urteil. Auch Vertreter der Gegenseite kommen zu Wort. Ein Mitglied der Jury, Anwalt der Mienengesellschaften, bezeichnet die Klagen der Bauern als egoistisch - die Aktivitäten der Konzerne würden sich in einem legalen Rahmen abspielen. Während einerseits auf die Schuldigen gezeigt wird, bleiben andererseits die genauen Zusammenhänge unklar. Aber in dieser Unschärfe liegt die Kraft des Films: Er weist darauf hin, dass lokale Probleme heute wie globale behandelt werden müssen.

Hätte Rau etwa die lokalen Stammeskonflikte genauer analysiert, hätte man die Schuld an dem Elend darauf abwälzen können. Aber nur so kann die globale Dimension der Katastrophe im Ostkongo zu Tage treten: das wirtschaftliche Interesse westlicher Konzerne und Staaten in einem vergewaltigten Kontinent.

In Anbetracht globaler Probleme haben Kino und Theater heute vielleicht keine Wahl mehr als ihrerseits global tätig zu werden, eine globale Solidarität herzustellen. Gerade hat Rau an der Berliner Schaubühne seine "Generalversammlung" aufgeführt, ein Weltparlament im Theatersaal, in dem Abgeordnete aus aller Welt Themen wie Klimawandel, Migration, Menschenrechte und Ressourcenverteilung diskutierten. Wenn die Institutionen dieser Welt ihren drängendsten Aufgaben nicht mehr nachkommen, muss man eben neue Institutionen schaffen - zum Beispiel auf der Bühne oder vor der Kamera. Raus Projekt, die Welt zu retten, mutet größenwahnsinnig an. Aber wir leben in Zeiten, die diesen Wahnsinn und diese Art der Kunst bitter nötig haben. Um diesen viel größeren Wahnsinn zu bannen, der darin bestünde, tatenlos zu bleiben, und der heute einen Großteil unserer Normalität ausmacht.

Das Kongo-Tribunal , D/CH 2017 - Regie und Buch: Milo Rau. Kamera: Thomas Schneider. Verleih: Realfiction, 100 Minuten.

© SZ vom 20.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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