Kino:Als das Schweigen tödlich war

In "120 BPM" erzählt der spätberufene Filmemacher Robin Campillo von einer wirklich durchlebten Zeit - als Aids-Aktivist in Paris.

Von Juliane Liebert

Über manche Filme spricht sich schwer. Robin Campillos "120 BPM", der dieses Jahr in Cannes den Großen Preis der Jury gewann, ist so ein Film. Er erzählt die Geschichte der Pariser Aktivistengruppe Act Up, die in den frühen Neunzigern gegen die Stigmatisierung der Opfer der Aids-Epidemie kämpfte - so könnte man beginnen.

Nun ist es aber so, dass Sätze, in denen "Aids" "Stigmatisierung" und "Aktivistengruppe" vorkommen, noch immer irgendeinen Bereich im Hirn zu aktivieren scheinen, der daraufhin "Ah, Aids, traurig, aber das krieg ich ja nicht. Gibt's nicht auch 'ne Komödie?" ausspuckt. Darum sollte man also richtiger sagen: "120 BPM" erzählt die Geschichte von Menschen, die ihre Geliebten, Kinder, Freunde und Bekannten um sich herum sterben sehen oder selbst unheilbar krank sind, und radikal und mit verzweifeltem Lebenswillen versuchen, dieses Schicksal abzuwenden oder wenigstens zu erleichtern. Und das zu einer Zeit, als dieser Kampf sich nicht nur gegen die Vorurteile der Politik und undurchsichtige Strategien der Pharmakonzerne richtet, sondern auch gegen den Drang eines großen Teils der Gesellschaft, einfach wegzuschauen.

Der Film ist dabei auf der einen Seite seltsam statisch. Man schaut den Aktivisten bei ihren Debatten und Aktionen zu. Zwischendurch gibt es Szenen, in denen sie zu Clubmusik tanzen, sie debattieren, demonstrieren, ficken, reden, tanzen, debattieren, demonstrieren, ficken, tanzen, die Abläufe wiederholen sich, fügen sich zu einem kreisenden Rhythmus.

Der andere Pol ist eine Liebesgeschichte zwischen einem gesunden und einem HIV-positiven Aktivisten. Nathan (Arnaud Valois) verliebt sich in Sean (Nahuel Pérez Biscayart) während romantischer Aktivitäten wie in Pharmakonzerne einbrechen- und Kunstblut werfen, mit bemalten Särgen durch die Stadt ziehen oder Flyer verteilen. Sie küssen sich das erste Mal, als sie in einer Schule Kondome verteilen und eine Schülerin sie beschimpft, sie brauche keines, sie sei keine Schwuchtel.

Die Helden sind egozentrisch, verzweifelt und schwer lebendig

Die Liebesgeschichte der beiden nimmt einen extrem mit, weil die Intimität und zugleich der körperliche Verfall sehr intensiv gezeigt werden. Die beiden sind Außenseiter, die zusammenfinden. Es ist nicht das erste Drama über Aids, aber eines der wenigen, in dem die Aktivisten nicht nur Reißbrettidealisten sind. "Philadelphia" oder "Dallas Buyer's Club" waren bei aller Tragik doch sehr Hollywood-affin und stutzten ihre Figuren auch entsprechend zurecht.

Das ist hier nicht der Fall. "120 BPMs" Helden sind egozentrisch, verzweifelt, mutwillig und schwer lebendig. Indem der Film die Dokumentation der Aktivistenszene und die Liebesgeschichte miteinander verbindet, aber gleichzeitig auch in ihrer Inkommensurabilität gegenüberstellt, verweigert er auch die klassische Tragödie, obwohl wir am Ende einer Hauptfigur beim Sterben zusehen.

"120 BPM" ist als eine Feier des Lebens im Angesicht des Todes gemeint, aber der Tod ist unausweichlich in diesem Film. Bei aller Stärke der Figuren sind sie trotzdem hilflos, und es wird gerade keine typische Erfolgsstory erzählt wie in "Dallas Buyer's Club" - also von Helden, die sich einen konkreten Fortschritt erkämpfen.

Film 120 BPM

Der brennende Wunsch, nicht länger unsichtbar zu sein: Nathan (Arnaud Valois, Mitte) bei einer Straßendemonstration von Aids-Aktivisten im Film „120 BPM“.

(Foto: Salzgeber)

Obwohl der Film in den Neunzigerjahren spielt, verfolgt er keinen historischen Ansatz. Selbst das Dekor bleibt unaufdringlich: Klar, alle tragen weit geschnittene Klamotten, aber es ist kein Zeitkolorit-Film, es entsteht keine "Mad-Men"-Atmosphäre. Der Film bleibt ganz in seiner Zeit, in seiner Gegenwart. Und "Gegenwart" ist für "120 BPM" ein wichtiger Begriff: Er ist keine Rückschau, kein Reenactment, kein Film über historische Ereignisse, sondern er will Gegenwart sein, das Jetzt der Neunzigerjahre für 140 Minuten noch einmal herstellen.

Das erreicht er auch darüber, dass er emotional so eindringlich ist, ohne eine "Lebensgeschichte" im engeren Sinn zu erzählen. Wir erfahren nur relativ wenig über die Figuren, obwohl sie teilweise sehr intime Gespräche führen. Der Einblick bleibt begrenzt, aber als Mittel, um Gegenwärtigkeit herzustellen, ist er sehr wirkungsvoll. Das gilt vor allem für die Tanzszenen. Nicht umsonst verweist der Titel auf "Beats per Minute", einen Begriff aus der Techno-Musik.

All die Kämpfe, die er zeigt, hat der Regisseur selbst mitgekämpft

Clubtanzszenen funktionieren im Kino eigentlich fast nie. Jeder zweite Film, der "das wilde Leben" darstellen will, benutzt sie zwar, aber meistens sind sie einfach nur ein Ärgernis. Einer der wenigen Filme, in dem sie funktionieren, ist "Berlin Calling", weil der während des normalen Clubbetriebs in der Bar 25 gedreht wurde. Auch die Punkszene mit Cate Blanchett im aktuellen "Manifesto" ist leblos, Exzess ist auch 2017 noch schwer nachzustellen. Die Tanzmomente in "120 BPM" aber sind eine Flucht, sie befreien nicht, es ist ein trauriger Exzess. Etwa wenn der Regisseur Robin Campillo Staubkörner im Licht zeigt, die sich in Zellen und Viren, in mikrobiologische Prozesse verwandeln.

Robin Campillo war selbst Mitglied von Act Up, er hat alle Kämpfe des Films selber mitgekämpft. Er trat 1992 bei, konnte aber erst jetzt, mit 55 Jahren und nach einer Lehrzeit als Filmcutter und Drehbuchautor, diesen Film über seine wichtigsten Jahre realisieren. Die Debatten, die Spannungen innerhalb der Gruppe, all das fühlt sich bis ins Detail gelebt an, obwohl die Geschichte fiktiv ist - ein Musterbeispiel für die alte Filmhochschulweisheit "Tell what you know".

Die Macht einer solchen Erzählhaltung zeigt sich etwa, nachdem der Liebende seinen Partner tot im Bett gefunden hat, die Freunde in die Wohnung kommen, sich umarmen, kleine Geschichten über den Verstorbenen erzählen - und ein Mitkämpfer schließlich vorschlägt, zum Trost über Nacht zu bleiben - "aber schon mit Sex". Das würde, wenn es nur ausgedacht wäre, wahrscheinlich übertrieben oder geschmacklos wirken - hier aber erscheint es als völlig logische und unzynische Art, mit der Trauer umzugehen. "Wir dürfen die blanke Brutalität dieser Jahre nie vergessen", sagt der Regisseur Robin Campillo. "Der Film ist erfüllt von einer Traurigkeit über den großen Verlust all jener Leute, die wir bewundert und geliebt haben."

Bei ihren Debatten klatschen oder buhen die Aktivisten im Film nicht, sie schnipsen oder zischen. Laut einer Anekdote klatschten die Zuschauer nach einer der ersten Aufführungen von 120 BPM nicht - sie blieben sitzen und schnipsten.

120 battements par minute, F 2017 - Regie: Robin Campillo. Buch: Robin Campillo, Philippe Mangeot. Kamera: Jeanne Lapoirie. Schnitt: Campillo, Stéphanie Léger, Anita Roth. Mit Nahuel Pérez Biscayart, Arnaud Valois, Adèle Haenel, Antoine Reinartz. Verleih: Salzgeber, 143 Minuten

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