Kino:Alpen-Outlaws

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Zur Resozialisierung auf die Alm: Der Schweizer Regisseur Simon Jacquemet erzählt in seinem Spielfilm "Chrieg" von der Hackordnung unter Jugendlichen.

Von Fritz Göttler

Es beginnt wie bei Kafka, oder wie später beim Alptraumkollegen George Orwell. Zwei Männer kommen ganz in der Früh und holen den jungen Matteo aus dem Bett, stecken ihn in einen vergitterten Lieferwagen und verfrachten ihn auf eine Alm in den Schweizer Bergen - ein Sozialisierungsprojekt, eine Heil-Anstalt der perfiden Art, wo ihm in den kommenden Wochen durchs Leben in der rauhen, unwirtlichen Natur die jugendliche Renitenz ausgetrieben werden soll. "Die Adoleszenz ist eine Blase", sagt der Regisseur Simon Jaquemet, "die deinen Kopf schwirren lässt vor Einsamkeit und zu vielen Bildern."

Jugend, bereit zum Krieg gegen die Gesellschaft. (Foto: Verleih)

Einsam war Matteo in der sterilen Bürgerlichkeit seines Elternhauses, in dem Zwiespalt zwischen dem hart konturierten Machismo des Vaters - der meistens beim oder auf dem Weg zum Training zu sehen ist - und der molligen Zärtlichkeit der Mutter. Die Kontakt- und Integrationsversuche sind alle gescheitert. Aber seine punkige Frisur - lange blonde Strähnen, teilweise gefärbt - wirkt wie eine banale Kostümierung.

Auf der Alm ist Matteo erst recht ein armer Hund, er wird in einen Käfig gesteckt und an die Kette gelegt, er friert und wird von den anderen Jugendlichen verachtet und malträtiert. Nur wenn er Geld hätte, wird ihm bedeutet, könnte er eventuell auch mal mit ihnen runterfahren zum Einkaufen in der Stadt. Eine kleine Ziegenzucht verleiht den Tagen einen Rhythmus und sorgt für ein wenig Wärme.

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Es ist eine dubiose Kommune, schon deshalb, weil ihre soziale Struktur, ihre Machtverhältnisse, überhaupt nicht eindeutig sind. Der Almvater hat kaum was zu sagen, die ihm anvertrauten Jungen und das Mädchen Ali bilden eine kleine alpine Gang. Matteo unterzieht sich einer Mutprobe, auf einem Gerüst über dem Tal, er wirkt tatsächlich fast schwerelos, wenn er die Arme ausbreitet in dieser schwindelerregenden Höhe.

Die Freiheit, von der die Kids hier träumen, ist die Freiheit der Aktion. Die Freiheit der Outlaws, der Asozialen, der Ausgegrenzten. Nachts fährt man heimlich in die Stadt hinunter, nimmt sich ein paar junge Bürgersöhne vor - gaukelt ihnen einen Kokain-Deal vor, nimmt sie mit in eine dunkle Ecke, schlägt sie zusammen und holt sich ihr Geld. Wie ein Schlag in die Magengrube, sagt der junge Filmemacher von seinem ersten Spielfilm, aber die brutalen Aktionen sind nicht exzessiv gefilmt, sondern aus der Distanz. Die Freiheit in diesem Film schafft es nie, märchenhaft, archaisch, richtig utopisch zu werden. Und am Ende hat sie sich auf böse Weise personalisiert, dann ziehen die Kids gegen die Eltern los, von denen sie sich verraten fühlen. Dann wird Rache genommen.

Ein bisschen Märchen, ein bisschen Utopie findet sich bei Matteos Mutter. Sie sitzt breit auf dem Sofa und hält Matteos Babybruder im Arm. Er darf ihn auch mal in die Arme nehmen. Und als der Vater das Haus verlässt, darf er auch die lästige Zahnspange aus dem Mund nehmen.

Chrieg, CH 2014 - Regie, Buch: Simon Jaquemet. Kamera: Lorenz Merz. . Mit: Benjamin Lutzke, Ste, Ella Rumpf, Sascha Gisler, John Leuppi . Picture Tree International/Déjavu-Film, 100 Min.

© SZ vom 29.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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